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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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früheren Leben des Individuums fremd gewesene, stehende Neigungen zu gewissen
Handlungen vor, so z. B. das beständige Sammeln (von allen möglichen Kleinig-
keiten, Federn, Lumpen, Papier etc.), das an die Sammel- und Kunsttriebe man-
cher Thiere erinnert und seinem psychischen Ursprunge nach gleich sonderbar
und räthselhaft, wie diese, ist. Ueberhaupt nimmt das Thun der Geisteskranken
in den Zuständen von Irresein, wo viel äusserlich gehandelt wird, wie in den
maniacalischen Zuständen, einen nach Jakobi's treffendem Ausdrucke, fast durch-
aus triebartigen Character an, und sehr auffallend ist oft der damit über-
einstimmende Ausdruck der Physionomie, der ganzen Mimik, die häufig lebhaft an
den Habitus und die Geberden einzelner Thierspecies erinnern.

§. 22.

In den Trieben sind es nicht einzelne, distinkte, klare Vorstel-
lungen, sondern es sind Empfindungen und Gefühle, die Bewegungs-
anschauungen erregen und damit das motorische Nervenagens nach
den Muskelgruppen determiniren. Wenn aber die bewussten deut-
lichen Vorstellungen selbst durch eine Einmischung von Bewegungs-
anschauungen eine Beziehung auf die Muskelbewegung erhalten, so
nennt man diesen Vorgang -- das Wollen.

Dem deutlichen sinnlichen Vorstellen gesellen sich jene Bewe-
gungsanschauungen zu; aber auch in das Vorstellen, das nur in ab-
stracten Gesamteindrücken, die durch Worte bezeichnet werden, be-
steht (das begriffliche Vorstellen. §. 14.), können Bewegungsbilder
eingehen. Diese sind dann aber gleichfalls nur dunkle Gesamt-
eindrücke aus grossen Summen von Bewegungsanschauungen, die
einzeln noch durchaus nicht geschieden, sondern wie zusammen-
gewickelt darin enthalten sind; soll es zum Ausführen des begrifflichen
Vorstellens kommen, so muss jener Gesamtinhalt in eine Menge ein-
zelner, vorher noch gar nicht zu bestimmender Bewegungsbilder aus-
einandergehen.

So verhält es sich überall, wo Abstractes gewollt wird -- tugendhaft sein-
wollen, heirathen-wollen etc., d. h. den Begriff der Tugend, den Begriff der
Ehe realisiren wollen; wo immer dies ein wirkliches Wollen und kein blosses
Darandenken ist, da ist mit dem Begriff eine dunkle Masse noch verschmolzener
Bewegungsanschauungen gemischt, die dann bei der Ausführung in ein sehr man-
nigfaltiges, einzelnes Wollen sich auflösen muss.

Die Vorstellungen gehen in ein Streben und Wollen über nach
einem inneren Zwange, in dem wir auch hier auf dem innerlichsten
Gebiete des Seelenlebens das Fundamentalgesetz der Reflexaction
erkennen. Den Geistesgesunden drängt und treibt es, seine Vor-
stellungen zu äussern, sie in Handlungen zu realisiren und damit
sich ihrer zu entäussern. Ist diess geschehen, so fühlt sich die

Griesinger, psych. Krankhtn. 3

Das Wollen.
früheren Leben des Individuums fremd gewesene, stehende Neigungen zu gewissen
Handlungen vor, so z. B. das beständige Sammeln (von allen möglichen Kleinig-
keiten, Federn, Lumpen, Papier etc.), das an die Sammel- und Kunsttriebe man-
cher Thiere erinnert und seinem psychischen Ursprunge nach gleich sonderbar
und räthselhaft, wie diese, ist. Ueberhaupt nimmt das Thun der Geisteskranken
in den Zuständen von Irresein, wo viel äusserlich gehandelt wird, wie in den
maniacalischen Zuständen, einen nach Jakobi’s treffendem Ausdrucke, fast durch-
aus triebartigen Character an, und sehr auffallend ist oft der damit über-
einstimmende Ausdruck der Physionomie, der ganzen Mimik, die häufig lebhaft an
den Habitus und die Geberden einzelner Thierspecies erinnern.

§. 22.

In den Trieben sind es nicht einzelne, distinkte, klare Vorstel-
lungen, sondern es sind Empfindungen und Gefühle, die Bewegungs-
anschauungen erregen und damit das motorische Nervenagens nach
den Muskelgruppen determiniren. Wenn aber die bewussten deut-
lichen Vorstellungen selbst durch eine Einmischung von Bewegungs-
anschauungen eine Beziehung auf die Muskelbewegung erhalten, so
nennt man diesen Vorgang — das Wollen.

Dem deutlichen sinnlichen Vorstellen gesellen sich jene Bewe-
gungsanschauungen zu; aber auch in das Vorstellen, das nur in ab-
stracten Gesamteindrücken, die durch Worte bezeichnet werden, be-
steht (das begriffliche Vorstellen. §. 14.), können Bewegungsbilder
eingehen. Diese sind dann aber gleichfalls nur dunkle Gesamt-
eindrücke aus grossen Summen von Bewegungsanschauungen, die
einzeln noch durchaus nicht geschieden, sondern wie zusammen-
gewickelt darin enthalten sind; soll es zum Ausführen des begrifflichen
Vorstellens kommen, so muss jener Gesamtinhalt in eine Menge ein-
zelner, vorher noch gar nicht zu bestimmender Bewegungsbilder aus-
einandergehen.

So verhält es sich überall, wo Abstractes gewollt wird — tugendhaft sein-
wollen, heirathen-wollen etc., d. h. den Begriff der Tugend, den Begriff der
Ehe realisiren wollen; wo immer dies ein wirkliches Wollen und kein blosses
Darandenken ist, da ist mit dem Begriff eine dunkle Masse noch verschmolzener
Bewegungsanschauungen gemischt, die dann bei der Ausführung in ein sehr man-
nigfaltiges, einzelnes Wollen sich auflösen muss.

Die Vorstellungen gehen in ein Streben und Wollen über nach
einem inneren Zwange, in dem wir auch hier auf dem innerlichsten
Gebiete des Seelenlebens das Fundamentalgesetz der Reflexaction
erkennen. Den Geistesgesunden drängt und treibt es, seine Vor-
stellungen zu äussern, sie in Handlungen zu realisiren und damit
sich ihrer zu entäussern. Ist diess geschehen, so fühlt sich die

Griesinger, psych. Krankhtn. 3
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[33/0047] Das Wollen. früheren Leben des Individuums fremd gewesene, stehende Neigungen zu gewissen Handlungen vor, so z. B. das beständige Sammeln (von allen möglichen Kleinig- keiten, Federn, Lumpen, Papier etc.), das an die Sammel- und Kunsttriebe man- cher Thiere erinnert und seinem psychischen Ursprunge nach gleich sonderbar und räthselhaft, wie diese, ist. Ueberhaupt nimmt das Thun der Geisteskranken in den Zuständen von Irresein, wo viel äusserlich gehandelt wird, wie in den maniacalischen Zuständen, einen nach Jakobi’s treffendem Ausdrucke, fast durch- aus triebartigen Character an, und sehr auffallend ist oft der damit über- einstimmende Ausdruck der Physionomie, der ganzen Mimik, die häufig lebhaft an den Habitus und die Geberden einzelner Thierspecies erinnern. §. 22. In den Trieben sind es nicht einzelne, distinkte, klare Vorstel- lungen, sondern es sind Empfindungen und Gefühle, die Bewegungs- anschauungen erregen und damit das motorische Nervenagens nach den Muskelgruppen determiniren. Wenn aber die bewussten deut- lichen Vorstellungen selbst durch eine Einmischung von Bewegungs- anschauungen eine Beziehung auf die Muskelbewegung erhalten, so nennt man diesen Vorgang — das Wollen. Dem deutlichen sinnlichen Vorstellen gesellen sich jene Bewe- gungsanschauungen zu; aber auch in das Vorstellen, das nur in ab- stracten Gesamteindrücken, die durch Worte bezeichnet werden, be- steht (das begriffliche Vorstellen. §. 14.), können Bewegungsbilder eingehen. Diese sind dann aber gleichfalls nur dunkle Gesamt- eindrücke aus grossen Summen von Bewegungsanschauungen, die einzeln noch durchaus nicht geschieden, sondern wie zusammen- gewickelt darin enthalten sind; soll es zum Ausführen des begrifflichen Vorstellens kommen, so muss jener Gesamtinhalt in eine Menge ein- zelner, vorher noch gar nicht zu bestimmender Bewegungsbilder aus- einandergehen. So verhält es sich überall, wo Abstractes gewollt wird — tugendhaft sein- wollen, heirathen-wollen etc., d. h. den Begriff der Tugend, den Begriff der Ehe realisiren wollen; wo immer dies ein wirkliches Wollen und kein blosses Darandenken ist, da ist mit dem Begriff eine dunkle Masse noch verschmolzener Bewegungsanschauungen gemischt, die dann bei der Ausführung in ein sehr man- nigfaltiges, einzelnes Wollen sich auflösen muss. Die Vorstellungen gehen in ein Streben und Wollen über nach einem inneren Zwange, in dem wir auch hier auf dem innerlichsten Gebiete des Seelenlebens das Fundamentalgesetz der Reflexaction erkennen. Den Geistesgesunden drängt und treibt es, seine Vor- stellungen zu äussern, sie in Handlungen zu realisiren und damit sich ihrer zu entäussern. Ist diess geschehen, so fühlt sich die Griesinger, psych. Krankhtn. 3

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/47>, abgerufen am 20.04.2024.