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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Die Triebe.
Reflexbewegungen). Alle Sinnorgane sind mit Muskelapparaten ver-
sehen, deren durch den Zustand des Sinnesnerven erregte ganz un-
willkührliche, aber zweckmässige Reflexbewegungen die sinnliche Per-
ception begleiten und wesentlich unterstützen. Auch jener grössere
Mechanismus, der die Bewegungsimpulse zu ganzen Reihen zweck-
mässig combinirter Muskelcontractionen in sich enthält, dem zunächst
die Bewegungen unsers ganzen Körpers im Grossen anvertraut sind,
wird durch sinnliche Empfindungen nach dem einfachen Modus der
Reflexaction in Bewegung gesetzt, und zwar theils unzweckmässig
(z. B. Zusammenfahren nach einem heftigen Sinneseindruck), theils
in zweckmässiger Weise. Bewegungen letzterer Art werden durch
sinnliche Empfindungen theils von aussen her erregt, wie wir in den
grösseren Tactbewegungen nach musikalischen Eindrücken, in den
rasch erfolgenden sog. instinctiven Handlungen nach starken Sinnes-
eindrücken (Abwenden u. dergl.) beobachten. Theils aber auch liegen
die Ursachen der sinnlichen Empfindungen, welche das Handeln er-
regen, in unserem eigenen Körper. Die Empfindungen aus unserm
ganzen Organismus, namentlich aber aus den Eingeweiden, aus dem
Darme, den Genitalien etc. geben als sinnliche Bedürfnisse dem Han-
deln bald leisere, bald impetuosere Anstösse; im Thiere herrschen
sie frei, sie machen den Hauptinhalt seiner psychischen Existenz aus,
sie treiben es auf weite Reisen und bestimmen alle seine grossen
Bewegungsreihen. Im Menschen ist der unmittelbare Uebergang
dieser Empfindungen in Bewegung dem Einwirken der Vorstellungen
in höherem Masse offen gelassen und durch sie treten Pflicht und
Sitte mahnend und regierend zwischen die sinnlichen Triebe. Aber
es gibt Umstände, wo jene ihre Macht verlieren. Geisteskranke, bei
welchen der Einfluss der Vorstellungen auf diese Triebe geschwächt
ist, dagegen vielleicht die sensitiven Anstösse derselben verstärkt
sind, sehen wir oft z. B. den Nahrungstrieb oder den Geschlechts-
trieb mit offenster Rücksichtslosigkeit äussern; manche traurige Bei-
spiele (von Schiffbrüchigen etc.) haben gezeigt, wie der Nahrungs-
trieb, aufs Höchste gesteigert, die Mahnung, welche ethische und
ästhetische Vorstellungen ihm entgegensetzen, trotzig überspringt,
und auch ohne solche Verwilderung, für den Menschen des gesitteten
Lebens, ist es ein wahres Wort, dass Hunger und Liebe die stärk-
sten Motive seines Handelns sind.

Den Drang, das Bedürfniss zur Muskelbewegung, zum Handeln in Folge sol-
cher aus dem Organismus selbst kommender sensitiver Anstösse begreift man
unter dem Namen der (sinnlichen) Triebe; die einfachsten und verständlichsten

Die Triebe.
Reflexbewegungen). Alle Sinnorgane sind mit Muskelapparaten ver-
sehen, deren durch den Zustand des Sinnesnerven erregte ganz un-
willkührliche, aber zweckmässige Reflexbewegungen die sinnliche Per-
ception begleiten und wesentlich unterstützen. Auch jener grössere
Mechanismus, der die Bewegungsimpulse zu ganzen Reihen zweck-
mässig combinirter Muskelcontractionen in sich enthält, dem zunächst
die Bewegungen unsers ganzen Körpers im Grossen anvertraut sind,
wird durch sinnliche Empfindungen nach dem einfachen Modus der
Reflexaction in Bewegung gesetzt, und zwar theils unzweckmässig
(z. B. Zusammenfahren nach einem heftigen Sinneseindruck), theils
in zweckmässiger Weise. Bewegungen letzterer Art werden durch
sinnliche Empfindungen theils von aussen her erregt, wie wir in den
grösseren Tactbewegungen nach musikalischen Eindrücken, in den
rasch erfolgenden sog. instinctiven Handlungen nach starken Sinnes-
eindrücken (Abwenden u. dergl.) beobachten. Theils aber auch liegen
die Ursachen der sinnlichen Empfindungen, welche das Handeln er-
regen, in unserem eigenen Körper. Die Empfindungen aus unserm
ganzen Organismus, namentlich aber aus den Eingeweiden, aus dem
Darme, den Genitalien etc. geben als sinnliche Bedürfnisse dem Han-
deln bald leisere, bald impetuosere Anstösse; im Thiere herrschen
sie frei, sie machen den Hauptinhalt seiner psychischen Existenz aus,
sie treiben es auf weite Reisen und bestimmen alle seine grossen
Bewegungsreihen. Im Menschen ist der unmittelbare Uebergang
dieser Empfindungen in Bewegung dem Einwirken der Vorstellungen
in höherem Masse offen gelassen und durch sie treten Pflicht und
Sitte mahnend und regierend zwischen die sinnlichen Triebe. Aber
es gibt Umstände, wo jene ihre Macht verlieren. Geisteskranke, bei
welchen der Einfluss der Vorstellungen auf diese Triebe geschwächt
ist, dagegen vielleicht die sensitiven Anstösse derselben verstärkt
sind, sehen wir oft z. B. den Nahrungstrieb oder den Geschlechts-
trieb mit offenster Rücksichtslosigkeit äussern; manche traurige Bei-
spiele (von Schiffbrüchigen etc.) haben gezeigt, wie der Nahrungs-
trieb, aufs Höchste gesteigert, die Mahnung, welche ethische und
ästhetische Vorstellungen ihm entgegensetzen, trotzig überspringt,
und auch ohne solche Verwilderung, für den Menschen des gesitteten
Lebens, ist es ein wahres Wort, dass Hunger und Liebe die stärk-
sten Motive seines Handelns sind.

Den Drang, das Bedürfniss zur Muskelbewegung, zum Handeln in Folge sol-
cher aus dem Organismus selbst kommender sensitiver Anstösse begreift man
unter dem Namen der (sinnlichen) Triebe; die einfachsten und verständlichsten

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[31/0045] Die Triebe. Reflexbewegungen). Alle Sinnorgane sind mit Muskelapparaten ver- sehen, deren durch den Zustand des Sinnesnerven erregte ganz un- willkührliche, aber zweckmässige Reflexbewegungen die sinnliche Per- ception begleiten und wesentlich unterstützen. Auch jener grössere Mechanismus, der die Bewegungsimpulse zu ganzen Reihen zweck- mässig combinirter Muskelcontractionen in sich enthält, dem zunächst die Bewegungen unsers ganzen Körpers im Grossen anvertraut sind, wird durch sinnliche Empfindungen nach dem einfachen Modus der Reflexaction in Bewegung gesetzt, und zwar theils unzweckmässig (z. B. Zusammenfahren nach einem heftigen Sinneseindruck), theils in zweckmässiger Weise. Bewegungen letzterer Art werden durch sinnliche Empfindungen theils von aussen her erregt, wie wir in den grösseren Tactbewegungen nach musikalischen Eindrücken, in den rasch erfolgenden sog. instinctiven Handlungen nach starken Sinnes- eindrücken (Abwenden u. dergl.) beobachten. Theils aber auch liegen die Ursachen der sinnlichen Empfindungen, welche das Handeln er- regen, in unserem eigenen Körper. Die Empfindungen aus unserm ganzen Organismus, namentlich aber aus den Eingeweiden, aus dem Darme, den Genitalien etc. geben als sinnliche Bedürfnisse dem Han- deln bald leisere, bald impetuosere Anstösse; im Thiere herrschen sie frei, sie machen den Hauptinhalt seiner psychischen Existenz aus, sie treiben es auf weite Reisen und bestimmen alle seine grossen Bewegungsreihen. Im Menschen ist der unmittelbare Uebergang dieser Empfindungen in Bewegung dem Einwirken der Vorstellungen in höherem Masse offen gelassen und durch sie treten Pflicht und Sitte mahnend und regierend zwischen die sinnlichen Triebe. Aber es gibt Umstände, wo jene ihre Macht verlieren. Geisteskranke, bei welchen der Einfluss der Vorstellungen auf diese Triebe geschwächt ist, dagegen vielleicht die sensitiven Anstösse derselben verstärkt sind, sehen wir oft z. B. den Nahrungstrieb oder den Geschlechts- trieb mit offenster Rücksichtslosigkeit äussern; manche traurige Bei- spiele (von Schiffbrüchigen etc.) haben gezeigt, wie der Nahrungs- trieb, aufs Höchste gesteigert, die Mahnung, welche ethische und ästhetische Vorstellungen ihm entgegensetzen, trotzig überspringt, und auch ohne solche Verwilderung, für den Menschen des gesitteten Lebens, ist es ein wahres Wort, dass Hunger und Liebe die stärk- sten Motive seines Handelns sind. Den Drang, das Bedürfniss zur Muskelbewegung, zum Handeln in Folge sol- cher aus dem Organismus selbst kommender sensitiver Anstösse begreift man unter dem Namen der (sinnlichen) Triebe; die einfachsten und verständlichsten

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/45>, abgerufen am 24.04.2024.