Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

Bild:
<< vorherige Seite
Dritter Abschnitt.
Physio-pathologische Vorbemerkungen über das Seelenleben.
§. 12.

Das centrale Nervensystem, das sich in den Hemisphären aus-
breitet, ist ein doppeltseitiges, wie das peripherische; wir denken
indessen nicht doppelt mit unsern beiden Hemisphären, so wenig
wir doppelt sehen mit beiden Augen. Für den einen, wie für den
andern Vorgang wird man die mittleren, einfachen Theile des Ge-
hirns in der Erklärung zu Hülfe nehmen müssen. So viel indessen
ist sicher, dass Verletzungen und Desorganisationen beider Gehirn-
hälften, auch wenn sie verhältnissmässig unbedeutender sind, als ein-
seitige Erkrankungen, viel bedeutendere und allgemeinere Symptome,
namentlich psychischer Art, erregen. Da, wo man bei Geisteskranken
anatomische Veränderungen des Gehirns findet, sind solche, wenn gleich
oft an sich unbedeutend, doch beinahe immer doppeltseitig und meist
ziemlich ausgebreitet (z. B. die Hyperämieen).

In einem einzigen Falle ganz frischer Erkrankung (Schwermuth; Ideen von
Verfolgung; Selbstmordversuch; ein Bruder blödsinnig) haben wir von dem Kran-
ken, der noch gut über seinen Zustand Rechenschaft gab, die Aeusserung gehört,
er fühle sehr wohl, dass er nur auf Einer Seite des Kopfs, der rechten, ver-
wirrt sei. Aehnliche Fälle aus der Literatur finden sich bei Friedreich, Allg.
Pathologie der psychischen Krankheiten. Erlangen 1839. p. 61. Wir sind nicht
geneigt, ihnen eine grosse Bedeutung beizulegen.

§. 13.

Im Rückenmarke ist es sicher, dass die graue Substanz die-
jenigen Thätigkeiten vermittelt, welche zwischen der centripetalen
(sensitiven) Zuleitung und der centrifugalen (motorischen) Ableitung in
der Mitte stehen, nämlich die eigentliche Aufnahme der Eindrücke und
die Vermittlung ihrer gegenseitigen Wirkungen auf einander (z. B.
Reflexaction). Die Analogie könnte darauf führen, der grauen Ge-
hirnsubstanz ähnliche Functionen zuzutheilen, nämlich die Umarbeitung
der durch die weissen Fasern zugeleiteten Zustände, die Verbindung
und das Ineinanderwirken der Eindrücke, und daraus hervorgehend
die Entstehung motorischer Impulse. Namentlich die graue Rinde
der Hemisphären, deren sehr bedeutende Oberfläche einen Haupt-
vorzug des menschlichen Gehirns ausmacht und die man bei Geistes-
krankheiten nicht selten verändert findet, ist von einzelnen Forschern
für den Sitz der "Intelligenz" und des "Willens" erklärt worden.

Griesinger, psych. Krankhtn. 2
Dritter Abschnitt.
Physio-pathologische Vorbemerkungen über das Seelenleben.
§. 12.

Das centrale Nervensystem, das sich in den Hemisphären aus-
breitet, ist ein doppeltseitiges, wie das peripherische; wir denken
indessen nicht doppelt mit unsern beiden Hemisphären, so wenig
wir doppelt sehen mit beiden Augen. Für den einen, wie für den
andern Vorgang wird man die mittleren, einfachen Theile des Ge-
hirns in der Erklärung zu Hülfe nehmen müssen. So viel indessen
ist sicher, dass Verletzungen und Desorganisationen beider Gehirn-
hälften, auch wenn sie verhältnissmässig unbedeutender sind, als ein-
seitige Erkrankungen, viel bedeutendere und allgemeinere Symptome,
namentlich psychischer Art, erregen. Da, wo man bei Geisteskranken
anatomische Veränderungen des Gehirns findet, sind solche, wenn gleich
oft an sich unbedeutend, doch beinahe immer doppeltseitig und meist
ziemlich ausgebreitet (z. B. die Hyperämieen).

In einem einzigen Falle ganz frischer Erkrankung (Schwermuth; Ideen von
Verfolgung; Selbstmordversuch; ein Bruder blödsinnig) haben wir von dem Kran-
ken, der noch gut über seinen Zustand Rechenschaft gab, die Aeusserung gehört,
er fühle sehr wohl, dass er nur auf Einer Seite des Kopfs, der rechten, ver-
wirrt sei. Aehnliche Fälle aus der Literatur finden sich bei Friedreich, Allg.
Pathologie der psychischen Krankheiten. Erlangen 1839. p. 61. Wir sind nicht
geneigt, ihnen eine grosse Bedeutung beizulegen.

§. 13.

Im Rückenmarke ist es sicher, dass die graue Substanz die-
jenigen Thätigkeiten vermittelt, welche zwischen der centripetalen
(sensitiven) Zuleitung und der centrifugalen (motorischen) Ableitung in
der Mitte stehen, nämlich die eigentliche Aufnahme der Eindrücke und
die Vermittlung ihrer gegenseitigen Wirkungen auf einander (z. B.
Reflexaction). Die Analogie könnte darauf führen, der grauen Ge-
hirnsubstanz ähnliche Functionen zuzutheilen, nämlich die Umarbeitung
der durch die weissen Fasern zugeleiteten Zustände, die Verbindung
und das Ineinanderwirken der Eindrücke, und daraus hervorgehend
die Entstehung motorischer Impulse. Namentlich die graue Rinde
der Hemisphären, deren sehr bedeutende Oberfläche einen Haupt-
vorzug des menschlichen Gehirns ausmacht und die man bei Geistes-
krankheiten nicht selten verändert findet, ist von einzelnen Forschern
für den Sitz der „Intelligenz“ und des „Willens“ erklärt worden.

Griesinger, psych. Krankhtn. 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0031" n="17"/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b">Dritter Abschnitt.</hi><lb/> <hi rendition="#i">Physio-pathologische Vorbemerkungen über das Seelenleben.</hi> </head><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 12.</head><lb/>
            <p>Das centrale Nervensystem, das sich in den Hemisphären aus-<lb/>
breitet, ist ein doppeltseitiges, wie das peripherische; wir denken<lb/>
indessen nicht doppelt mit unsern beiden Hemisphären, so wenig<lb/>
wir doppelt sehen mit beiden Augen. Für den einen, wie für den<lb/>
andern Vorgang wird man die mittleren, einfachen Theile des Ge-<lb/>
hirns in der Erklärung zu Hülfe nehmen müssen. So viel indessen<lb/>
ist sicher, dass Verletzungen und Desorganisationen beider Gehirn-<lb/>
hälften, auch wenn sie verhältnissmässig unbedeutender sind, als ein-<lb/>
seitige Erkrankungen, viel bedeutendere und allgemeinere Symptome,<lb/>
namentlich psychischer Art, erregen. Da, wo man bei Geisteskranken<lb/>
anatomische Veränderungen des Gehirns findet, sind solche, wenn gleich<lb/>
oft an sich unbedeutend, doch beinahe immer doppeltseitig und meist<lb/>
ziemlich ausgebreitet (z. B. die Hyperämieen).</p><lb/>
            <p>In einem einzigen Falle ganz frischer Erkrankung (Schwermuth; Ideen von<lb/>
Verfolgung; Selbstmordversuch; ein Bruder blödsinnig) haben wir von dem Kran-<lb/>
ken, der noch gut über seinen Zustand Rechenschaft gab, die Aeusserung gehört,<lb/>
er fühle sehr wohl, dass er nur auf Einer Seite des Kopfs, der rechten, ver-<lb/>
wirrt sei. Aehnliche Fälle aus der Literatur finden sich bei <hi rendition="#g">Friedreich</hi>, Allg.<lb/>
Pathologie der psychischen Krankheiten. Erlangen 1839. p. 61. Wir sind nicht<lb/>
geneigt, ihnen eine grosse Bedeutung beizulegen.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 13.</head><lb/>
            <p>Im Rückenmarke ist es sicher, dass die graue Substanz die-<lb/>
jenigen Thätigkeiten vermittelt, welche zwischen der centripetalen<lb/>
(sensitiven) Zuleitung und der centrifugalen (motorischen) Ableitung in<lb/>
der Mitte stehen, nämlich die eigentliche Aufnahme der Eindrücke und<lb/>
die Vermittlung ihrer gegenseitigen Wirkungen auf einander (z. B.<lb/>
Reflexaction). Die Analogie könnte darauf führen, der grauen Ge-<lb/>
hirnsubstanz ähnliche Functionen zuzutheilen, nämlich die Umarbeitung<lb/>
der durch die weissen Fasern zugeleiteten Zustände, die Verbindung<lb/>
und das Ineinanderwirken der Eindrücke, und daraus hervorgehend<lb/>
die Entstehung motorischer Impulse. Namentlich die graue Rinde<lb/>
der Hemisphären, deren sehr bedeutende Oberfläche einen Haupt-<lb/>
vorzug des menschlichen Gehirns ausmacht und die man bei Geistes-<lb/>
krankheiten nicht selten verändert findet, ist von einzelnen Forschern<lb/>
für den Sitz der &#x201E;Intelligenz&#x201C; und des &#x201E;Willens&#x201C; erklärt worden.<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Griesinger</hi>, psych. Krankhtn. 2</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[17/0031] Dritter Abschnitt. Physio-pathologische Vorbemerkungen über das Seelenleben. §. 12. Das centrale Nervensystem, das sich in den Hemisphären aus- breitet, ist ein doppeltseitiges, wie das peripherische; wir denken indessen nicht doppelt mit unsern beiden Hemisphären, so wenig wir doppelt sehen mit beiden Augen. Für den einen, wie für den andern Vorgang wird man die mittleren, einfachen Theile des Ge- hirns in der Erklärung zu Hülfe nehmen müssen. So viel indessen ist sicher, dass Verletzungen und Desorganisationen beider Gehirn- hälften, auch wenn sie verhältnissmässig unbedeutender sind, als ein- seitige Erkrankungen, viel bedeutendere und allgemeinere Symptome, namentlich psychischer Art, erregen. Da, wo man bei Geisteskranken anatomische Veränderungen des Gehirns findet, sind solche, wenn gleich oft an sich unbedeutend, doch beinahe immer doppeltseitig und meist ziemlich ausgebreitet (z. B. die Hyperämieen). In einem einzigen Falle ganz frischer Erkrankung (Schwermuth; Ideen von Verfolgung; Selbstmordversuch; ein Bruder blödsinnig) haben wir von dem Kran- ken, der noch gut über seinen Zustand Rechenschaft gab, die Aeusserung gehört, er fühle sehr wohl, dass er nur auf Einer Seite des Kopfs, der rechten, ver- wirrt sei. Aehnliche Fälle aus der Literatur finden sich bei Friedreich, Allg. Pathologie der psychischen Krankheiten. Erlangen 1839. p. 61. Wir sind nicht geneigt, ihnen eine grosse Bedeutung beizulegen. §. 13. Im Rückenmarke ist es sicher, dass die graue Substanz die- jenigen Thätigkeiten vermittelt, welche zwischen der centripetalen (sensitiven) Zuleitung und der centrifugalen (motorischen) Ableitung in der Mitte stehen, nämlich die eigentliche Aufnahme der Eindrücke und die Vermittlung ihrer gegenseitigen Wirkungen auf einander (z. B. Reflexaction). Die Analogie könnte darauf führen, der grauen Ge- hirnsubstanz ähnliche Functionen zuzutheilen, nämlich die Umarbeitung der durch die weissen Fasern zugeleiteten Zustände, die Verbindung und das Ineinanderwirken der Eindrücke, und daraus hervorgehend die Entstehung motorischer Impulse. Namentlich die graue Rinde der Hemisphären, deren sehr bedeutende Oberfläche einen Haupt- vorzug des menschlichen Gehirns ausmacht und die man bei Geistes- krankheiten nicht selten verändert findet, ist von einzelnen Forschern für den Sitz der „Intelligenz“ und des „Willens“ erklärt worden. Griesinger, psych. Krankhtn. 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/31
Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/31>, abgerufen am 25.04.2024.