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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Einheit, Erkrankung der Seele.
Gehirne mit Händen greifen lassen. Indem die wahre empirische Auffassung die
Phänomene des Empfindens, Vorstellens und Wollens dem Gehirne als seine Thä-
tigkeiten zuschreibt, lässt sie nicht nur den thatsächlichen Inhalt des menschlichen
Seelenlebens in seinem ganzen Reichthum unberührt, und hält namentlich die
Thatsache der freien Selbstbestimmung nachdrüklich fest; sie lässt natürlich auch
die metaphysischen Fragen offen, was es etwa sei, was als Seelen substanz
in diese Relationen des Empfindens, Vorstellens und Wollens eingehe, die Form
der psychischen Existenz annehme etc. Sie muss ruhig die Zeit erwarten, wo
die Fragen über den Zusammenhang des Inhalts des menschlichen Seelenlebens
mit seiner Form statt zu metaphysischen -- zu physiologischen Problemen werden.

Indem für die empirische Betrachtung die Seele zunächst in eine
Mannigfaltigkeit und Vielheit psychischer Vorgänge sich auseinander-
breitet, geht ihr darüber die Einheit im Seelenleben nicht verloren.
Sie erscheint zunächst als diejenige Einheit, die auch der Thierseele
zukommt, die dem Accorde oder der Harmonie zu vergleichen ist,
welche auch ein Eines aus mehren und vielen Tönen sind. Sie er-
scheint aber auch als eine höhere und bewusste Einheit, indem aus
dem Wechsel der Seelenzustände ein Eines, scheinbar Bleibendes
sich sammelt, das Ich. Freilich ist diese selbst erworbene Einheit
keine ruhende und starre, sondern mit dem Ich setzt sich die Seele
sich selbst -- einem Du in ihr -- entgegen, und der Fortschritt von
dieser Entzweiung zu immer weiteren und höheren Vereinigungen ist
eben das treibende Moment des menschlichen Seelenlebens.

Ein etwaiger Streit über Materialität oder Immaterialität der psychischen
Processe liesse sich mit unsern gegenwärtigen Begriffen nicht entscheiden, und
fiele zusammen mit der Frage nach den inneren Veränderungen bei der Thätigkeit
des Nervensystems. Alle Vergleichungen mit den Imponderabilien, welche in
einem ähnlichen Verhältnisse zur Materie stehen -- auch sie erscheinen als etwas
Immaterielles, werden aber durch materielle Veränderungen hervorgerufen und in
ihren Wirkungen modificirt, und bewirken selbst wieder Veränderungen in der
Materie -- sind nur wenig förderlich. Das psychische oder nervöse Agens hat
in der ganzen übrigen Welt nichts wirklich Analoges; die Theorie findet, wie
schon Locke aussprach, dieselben Schwierigkeiten, ob sie die Materie denken las-
sen, oder ob sie die Einwirkung eines Immateriellen auf die Materie begreifen will.

Nach diesen Prämissen wird nun die von der deutschen Psy-
chiatrie ungebührlich oft und weitläufig behandelte Frage, ob beim
Irresein, bei den Anomalieen im Vorstellen und Wollen, die Erkran-
kung auch wirklich die Seele betreffe
, ihre einfache, bejahende
Lösung finden. Nur wird man allerdings nicht von Krankheiten der
Seele selbst zu sprechen haben -- so wenig überhaupt eine richtige
Pathologie von Krankheiten der Lebens-Processe, der Functionen spricht
-- sondern nur von Krankheiten des Gehirns, durch welche jene Acte
des Vorstellens und Wollens gestört werden.

Einheit, Erkrankung der Seele.
Gehirne mit Händen greifen lassen. Indem die wahre empirische Auffassung die
Phänomene des Empfindens, Vorstellens und Wollens dem Gehirne als seine Thä-
tigkeiten zuschreibt, lässt sie nicht nur den thatsächlichen Inhalt des menschlichen
Seelenlebens in seinem ganzen Reichthum unberührt, und hält namentlich die
Thatsache der freien Selbstbestimmung nachdrüklich fest; sie lässt natürlich auch
die metaphysischen Fragen offen, was es etwa sei, was als Seelen substanz
in diese Relationen des Empfindens, Vorstellens und Wollens eingehe, die Form
der psychischen Existenz annehme etc. Sie muss ruhig die Zeit erwarten, wo
die Fragen über den Zusammenhang des Inhalts des menschlichen Seelenlebens
mit seiner Form statt zu metaphysischen — zu physiologischen Problemen werden.

Indem für die empirische Betrachtung die Seele zunächst in eine
Mannigfaltigkeit und Vielheit psychischer Vorgänge sich auseinander-
breitet, geht ihr darüber die Einheit im Seelenleben nicht verloren.
Sie erscheint zunächst als diejenige Einheit, die auch der Thierseele
zukommt, die dem Accorde oder der Harmonie zu vergleichen ist,
welche auch ein Eines aus mehren und vielen Tönen sind. Sie er-
scheint aber auch als eine höhere und bewusste Einheit, indem aus
dem Wechsel der Seelenzustände ein Eines, scheinbar Bleibendes
sich sammelt, das Ich. Freilich ist diese selbst erworbene Einheit
keine ruhende und starre, sondern mit dem Ich setzt sich die Seele
sich selbst — einem Du in ihr — entgegen, und der Fortschritt von
dieser Entzweiung zu immer weiteren und höheren Vereinigungen ist
eben das treibende Moment des menschlichen Seelenlebens.

Ein etwaiger Streit über Materialität oder Immaterialität der psychischen
Processe liesse sich mit unsern gegenwärtigen Begriffen nicht entscheiden, und
fiele zusammen mit der Frage nach den inneren Veränderungen bei der Thätigkeit
des Nervensystems. Alle Vergleichungen mit den Imponderabilien, welche in
einem ähnlichen Verhältnisse zur Materie stehen — auch sie erscheinen als etwas
Immaterielles, werden aber durch materielle Veränderungen hervorgerufen und in
ihren Wirkungen modificirt, und bewirken selbst wieder Veränderungen in der
Materie — sind nur wenig förderlich. Das psychische oder nervöse Agens hat
in der ganzen übrigen Welt nichts wirklich Analoges; die Theorie findet, wie
schon Locke aussprach, dieselben Schwierigkeiten, ob sie die Materie denken las-
sen, oder ob sie die Einwirkung eines Immateriellen auf die Materie begreifen will.

Nach diesen Prämissen wird nun die von der deutschen Psy-
chiatrie ungebührlich oft und weitläufig behandelte Frage, ob beim
Irresein, bei den Anomalieen im Vorstellen und Wollen, die Erkran-
kung auch wirklich die Seele betreffe
, ihre einfache, bejahende
Lösung finden. Nur wird man allerdings nicht von Krankheiten der
Seele selbst zu sprechen haben — so wenig überhaupt eine richtige
Pathologie von Krankheiten der Lebens-Processe, der Functionen spricht
— sondern nur von Krankheiten des Gehirns, durch welche jene Acte
des Vorstellens und Wollens gestört werden.

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[6/0020] Einheit, Erkrankung der Seele. Gehirne mit Händen greifen lassen. Indem die wahre empirische Auffassung die Phänomene des Empfindens, Vorstellens und Wollens dem Gehirne als seine Thä- tigkeiten zuschreibt, lässt sie nicht nur den thatsächlichen Inhalt des menschlichen Seelenlebens in seinem ganzen Reichthum unberührt, und hält namentlich die Thatsache der freien Selbstbestimmung nachdrüklich fest; sie lässt natürlich auch die metaphysischen Fragen offen, was es etwa sei, was als Seelen substanz in diese Relationen des Empfindens, Vorstellens und Wollens eingehe, die Form der psychischen Existenz annehme etc. Sie muss ruhig die Zeit erwarten, wo die Fragen über den Zusammenhang des Inhalts des menschlichen Seelenlebens mit seiner Form statt zu metaphysischen — zu physiologischen Problemen werden. Indem für die empirische Betrachtung die Seele zunächst in eine Mannigfaltigkeit und Vielheit psychischer Vorgänge sich auseinander- breitet, geht ihr darüber die Einheit im Seelenleben nicht verloren. Sie erscheint zunächst als diejenige Einheit, die auch der Thierseele zukommt, die dem Accorde oder der Harmonie zu vergleichen ist, welche auch ein Eines aus mehren und vielen Tönen sind. Sie er- scheint aber auch als eine höhere und bewusste Einheit, indem aus dem Wechsel der Seelenzustände ein Eines, scheinbar Bleibendes sich sammelt, das Ich. Freilich ist diese selbst erworbene Einheit keine ruhende und starre, sondern mit dem Ich setzt sich die Seele sich selbst — einem Du in ihr — entgegen, und der Fortschritt von dieser Entzweiung zu immer weiteren und höheren Vereinigungen ist eben das treibende Moment des menschlichen Seelenlebens. Ein etwaiger Streit über Materialität oder Immaterialität der psychischen Processe liesse sich mit unsern gegenwärtigen Begriffen nicht entscheiden, und fiele zusammen mit der Frage nach den inneren Veränderungen bei der Thätigkeit des Nervensystems. Alle Vergleichungen mit den Imponderabilien, welche in einem ähnlichen Verhältnisse zur Materie stehen — auch sie erscheinen als etwas Immaterielles, werden aber durch materielle Veränderungen hervorgerufen und in ihren Wirkungen modificirt, und bewirken selbst wieder Veränderungen in der Materie — sind nur wenig förderlich. Das psychische oder nervöse Agens hat in der ganzen übrigen Welt nichts wirklich Analoges; die Theorie findet, wie schon Locke aussprach, dieselben Schwierigkeiten, ob sie die Materie denken las- sen, oder ob sie die Einwirkung eines Immateriellen auf die Materie begreifen will. Nach diesen Prämissen wird nun die von der deutschen Psy- chiatrie ungebührlich oft und weitläufig behandelte Frage, ob beim Irresein, bei den Anomalieen im Vorstellen und Wollen, die Erkran- kung auch wirklich die Seele betreffe, ihre einfache, bejahende Lösung finden. Nur wird man allerdings nicht von Krankheiten der Seele selbst zu sprechen haben — so wenig überhaupt eine richtige Pathologie von Krankheiten der Lebens-Processe, der Functionen spricht — sondern nur von Krankheiten des Gehirns, durch welche jene Acte des Vorstellens und Wollens gestört werden.

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/20>, abgerufen am 29.03.2024.