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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Vorwort.

Ich habe dieser Schrift die Form eines Lehrbuchs gegeben, weil ich
glaube, dass der bisherige vollständige Mangel eines solchen viel an der ge-
ringen Verbreitung der Psychiatrie schuldig ist, und es mir hohe Zeit scheint,
dass ein so wichtiger Zweig der Medicin nicht mehr das Geheimniss einiger
Eingeweihten bleibe, sondern zum Gemeingut ärztlicher Bildung werde. Die
Vernachlässigung der Psychiatrie unter den Aerzten und namentlich auf den
Universitäten zeigt täglich ihre traurigen Folgen. Sie kommen zu Tage in
der Beurtheilung und Behandlung der frischen Erkrankungsfälle von Seiten
der Praktiker, in deren Hände die Geisteskranken meistens lange, ehe sie
den Irrenärzten der Anstalten übergeben werden, gelangen. Sie zeigen sich
noch deutlicher bei den forensischen Geschäften der Aerzte. Der Staat,
welcher Niemanden einen Verband 'anlegen lässt, ohne dass er dazu seine
Fähigkeit und practische Uebung nachgewiesen hätte, gestattet es, dass die
subtilsten Fragen über zweifelhafte Gemüthszustände über den Köpfen der
Angeschuldigten weg von Aerzten debattirt werden, welche noch nie eines
Geisteskranken ansichtig geworden sind oder einen solchen zum erstenmale
in dem Augenblicke sehen, wo sie über seinen Seelenzustand und damit
über seine Todeswürdigkeit oder Freisprechung, ein Urtheil abzugeben haben.
Die gänzliche Unsicherheit dieser Urtheile hat dieselbe bei den Juristen, völlig
mit Recht, um ihren Credit gebracht. Es ist aber dieser Entwürdigung der
forensischen Medicin und den unermesslichen practischen Nachtheilen der-
selben nur dadurch abzuhelfen, dass man entweder den Aerzten, so lange
sie keine Gelegenheit zu seiner Erlernung haben, ein Geschäft ganz abnimmt,
das der Natur der Dinge nach doch Niemand Anderes übernehmen kann und
das immer zu den wichtigsten Pflichten ihres Standes gezählt wurde, oder
dass man psychisch-forensische Fragen nur von den wirklichen Irrenärzten
eines Landes beantworten lässt, oder dass man für einen genauen psychia-
trischen Unterricht Sorge trägt, womit nichts Anderes, als die Errichtung
regelmässiger psychiatrischer Cliniken gemeint sein kann.

Ueber die Einrichtung dieser Schrift habe ich nur Weniges zu bemerken.
Die psychologische Analyse des Irreseins, mit deren bisheriger Behandlung
ich in vielen Punkten nicht übereinstimmen konnte und deren eigene Dar-
stellung desshalb eine Hauptaufgabe bildete, machte es nothwendig, Einiges
über das gesunde Seelenleben vorauszuschicken. Es galt hier nicht eine
Psychologie zu schreiben, sondern nur einige Hauptpunkte von unmittelbarer
Anwendung auf die psychische Krankheit hervorzuheben. Ich befand mich
hier an einigen Stellen in der besonderen Lage, eigene Ansichten über den
Zusammenhang der psychischen Erscheinungen unterdrücken zu müssen,
weil sie nicht ohne eine für die nothwendige Kürze dieser Schrift allzu
weitgreifende Auseinandersetzung hätten dargestellt werden können, und

Vorwort.

Ich habe dieser Schrift die Form eines Lehrbuchs gegeben, weil ich
glaube, dass der bisherige vollständige Mangel eines solchen viel an der ge-
ringen Verbreitung der Psychiatrie schuldig ist, und es mir hohe Zeit scheint,
dass ein so wichtiger Zweig der Medicin nicht mehr das Geheimniss einiger
Eingeweihten bleibe, sondern zum Gemeingut ärztlicher Bildung werde. Die
Vernachlässigung der Psychiatrie unter den Aerzten und namentlich auf den
Universitäten zeigt täglich ihre traurigen Folgen. Sie kommen zu Tage in
der Beurtheilung und Behandlung der frischen Erkrankungsfälle von Seiten
der Praktiker, in deren Hände die Geisteskranken meistens lange, ehe sie
den Irrenärzten der Anstalten übergeben werden, gelangen. Sie zeigen sich
noch deutlicher bei den forensischen Geschäften der Aerzte. Der Staat,
welcher Niemanden einen Verband ’anlegen lässt, ohne dass er dazu seine
Fähigkeit und practische Uebung nachgewiesen hätte, gestattet es, dass die
subtilsten Fragen über zweifelhafte Gemüthszustände über den Köpfen der
Angeschuldigten weg von Aerzten debattirt werden, welche noch nie eines
Geisteskranken ansichtig geworden sind oder einen solchen zum erstenmale
in dem Augenblicke sehen, wo sie über seinen Seelenzustand und damit
über seine Todeswürdigkeit oder Freisprechung, ein Urtheil abzugeben haben.
Die gänzliche Unsicherheit dieser Urtheile hat dieselbe bei den Juristen, völlig
mit Recht, um ihren Credit gebracht. Es ist aber dieser Entwürdigung der
forensischen Medicin und den unermesslichen practischen Nachtheilen der-
selben nur dadurch abzuhelfen, dass man entweder den Aerzten, so lange
sie keine Gelegenheit zu seiner Erlernung haben, ein Geschäft ganz abnimmt,
das der Natur der Dinge nach doch Niemand Anderes übernehmen kann und
das immer zu den wichtigsten Pflichten ihres Standes gezählt wurde, oder
dass man psychisch-forensische Fragen nur von den wirklichen Irrenärzten
eines Landes beantworten lässt, oder dass man für einen genauen psychia-
trischen Unterricht Sorge trägt, womit nichts Anderes, als die Errichtung
regelmässiger psychiatrischer Cliniken gemeint sein kann.

Ueber die Einrichtung dieser Schrift habe ich nur Weniges zu bemerken.
Die psychologische Analyse des Irreseins, mit deren bisheriger Behandlung
ich in vielen Punkten nicht übereinstimmen konnte und deren eigene Dar-
stellung desshalb eine Hauptaufgabe bildete, machte es nothwendig, Einiges
über das gesunde Seelenleben vorauszuschicken. Es galt hier nicht eine
Psychologie zu schreiben, sondern nur einige Hauptpunkte von unmittelbarer
Anwendung auf die psychische Krankheit hervorzuheben. Ich befand mich
hier an einigen Stellen in der besonderen Lage, eigene Ansichten über den
Zusammenhang der psychischen Erscheinungen unterdrücken zu müssen,
weil sie nicht ohne eine für die nothwendige Kürze dieser Schrift allzu
weitgreifende Auseinandersetzung hätten dargestellt werden können, und

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[IV/0010] Vorwort. Ich habe dieser Schrift die Form eines Lehrbuchs gegeben, weil ich glaube, dass der bisherige vollständige Mangel eines solchen viel an der ge- ringen Verbreitung der Psychiatrie schuldig ist, und es mir hohe Zeit scheint, dass ein so wichtiger Zweig der Medicin nicht mehr das Geheimniss einiger Eingeweihten bleibe, sondern zum Gemeingut ärztlicher Bildung werde. Die Vernachlässigung der Psychiatrie unter den Aerzten und namentlich auf den Universitäten zeigt täglich ihre traurigen Folgen. Sie kommen zu Tage in der Beurtheilung und Behandlung der frischen Erkrankungsfälle von Seiten der Praktiker, in deren Hände die Geisteskranken meistens lange, ehe sie den Irrenärzten der Anstalten übergeben werden, gelangen. Sie zeigen sich noch deutlicher bei den forensischen Geschäften der Aerzte. Der Staat, welcher Niemanden einen Verband ’anlegen lässt, ohne dass er dazu seine Fähigkeit und practische Uebung nachgewiesen hätte, gestattet es, dass die subtilsten Fragen über zweifelhafte Gemüthszustände über den Köpfen der Angeschuldigten weg von Aerzten debattirt werden, welche noch nie eines Geisteskranken ansichtig geworden sind oder einen solchen zum erstenmale in dem Augenblicke sehen, wo sie über seinen Seelenzustand und damit über seine Todeswürdigkeit oder Freisprechung, ein Urtheil abzugeben haben. Die gänzliche Unsicherheit dieser Urtheile hat dieselbe bei den Juristen, völlig mit Recht, um ihren Credit gebracht. Es ist aber dieser Entwürdigung der forensischen Medicin und den unermesslichen practischen Nachtheilen der- selben nur dadurch abzuhelfen, dass man entweder den Aerzten, so lange sie keine Gelegenheit zu seiner Erlernung haben, ein Geschäft ganz abnimmt, das der Natur der Dinge nach doch Niemand Anderes übernehmen kann und das immer zu den wichtigsten Pflichten ihres Standes gezählt wurde, oder dass man psychisch-forensische Fragen nur von den wirklichen Irrenärzten eines Landes beantworten lässt, oder dass man für einen genauen psychia- trischen Unterricht Sorge trägt, womit nichts Anderes, als die Errichtung regelmässiger psychiatrischer Cliniken gemeint sein kann. Ueber die Einrichtung dieser Schrift habe ich nur Weniges zu bemerken. Die psychologische Analyse des Irreseins, mit deren bisheriger Behandlung ich in vielen Punkten nicht übereinstimmen konnte und deren eigene Dar- stellung desshalb eine Hauptaufgabe bildete, machte es nothwendig, Einiges über das gesunde Seelenleben vorauszuschicken. Es galt hier nicht eine Psychologie zu schreiben, sondern nur einige Hauptpunkte von unmittelbarer Anwendung auf die psychische Krankheit hervorzuheben. Ich befand mich hier an einigen Stellen in der besonderen Lage, eigene Ansichten über den Zusammenhang der psychischen Erscheinungen unterdrücken zu müssen, weil sie nicht ohne eine für die nothwendige Kürze dieser Schrift allzu weitgreifende Auseinandersetzung hätten dargestellt werden können, und

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. IV. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/10>, abgerufen am 24.04.2024.