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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr.

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Im chemisch-baltischen Gebiet während des Weltkrieges

zogen werden und daß eine eindringende Besinnung sich auf die Frage lenkt, wie
weit sich heute tatsächlich die Daseinsinteressen der deutschen Arbeiterschaft mit
dem Bestehen und dem Gedeihen des Deutschen Reiches verflochten haben, und
welche Forderungen dadurch der zukünftigen Politik unserer Arbeiterschaft er¬
wachsen. Diese Fragen sollen in den folgenden Heften einer grundsätzlichen Er¬
örterung unterzogen werden.




Im chemisch-baltischen Gebiet
während des Weltkrieges und der Revolution

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MMlitau und vor allem Riga haben Schweres gelitten ; sie find herrlich
erlöst worden. Die nördlichen chemischen Gebiete des Baltikums
! standen von jeher in näherer Beziehung zu Petersburg und unter
seinem unmittelbaren Druck; wurde doch speziell Reval auch inner-
^ halb der Ostseeprovinzen mitunter als "Vorstadt von Petersburg"
bezeichnet. Aber wenn auch das deutsche Element hier im Norden des Ostsee¬
landes, in Nachbarschaft von Finnland, in manchem anders geartet ist als das
sonstige baltische, auch verhältnismäßig einen geringeren Bruchteil der Gesamt-
bevölkerung ausmacht, so ist es doch nicht weniger zäh gewesen als das in den
anderen Provinzen.

Der tätigste und zielbewußteste Russifikator im Baltenlande, Fürst Sergei
Schachowskoi, 1885 bis 1894 Gouverneur von Estland, vermochte, gestützt durch
das Regime Alexanders des Dritten, wohl als schroffer Satrap das deutsche
(übrigens auch das chemische) Element in seinem Gouvernement brutal zu ver-
gewaltigen, den Oberbürgermeister von Reval seines Amtes zu entsetzen, die
orthodoxe Konversion mit dem Beistande Pobjedonosszews zu fördern -- auf die
Dauer mußte er in manchem Schamade blasen und in der letzten Zeit seines
Lebens von leitender Stelle her die rügenden, ihn tief verletzenden Worte hören,
er treibe eine Verärgerungspolitik, mit der seinem kaiserlichen Herrn nicht ge¬
dient sei.

Auf dem Lande blieb der Grundbesitz, in den Städten der Handel, die sich
in Reval seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts entwickelnde In¬
dustrie, blieb überhaupt "Bildung und Besitz" zumeist doch in deutschen Händen.

Das Jahr 1905 brachte die Konstitution, zugleich den baltischen Deutschen
eine gewisse Erleichterung, indem ihnen der Unterhalt von Privatschulen in weiterem
Umfang als bisher zugestanden wurde. Der "Deutsche Verein" in Estland war


Im chemisch-baltischen Gebiet während des Weltkrieges

zogen werden und daß eine eindringende Besinnung sich auf die Frage lenkt, wie
weit sich heute tatsächlich die Daseinsinteressen der deutschen Arbeiterschaft mit
dem Bestehen und dem Gedeihen des Deutschen Reiches verflochten haben, und
welche Forderungen dadurch der zukünftigen Politik unserer Arbeiterschaft er¬
wachsen. Diese Fragen sollen in den folgenden Heften einer grundsätzlichen Er¬
örterung unterzogen werden.




Im chemisch-baltischen Gebiet
während des Weltkrieges und der Revolution

.'5?/
MMlitau und vor allem Riga haben Schweres gelitten ; sie find herrlich
erlöst worden. Die nördlichen chemischen Gebiete des Baltikums
! standen von jeher in näherer Beziehung zu Petersburg und unter
seinem unmittelbaren Druck; wurde doch speziell Reval auch inner-
^ halb der Ostseeprovinzen mitunter als „Vorstadt von Petersburg"
bezeichnet. Aber wenn auch das deutsche Element hier im Norden des Ostsee¬
landes, in Nachbarschaft von Finnland, in manchem anders geartet ist als das
sonstige baltische, auch verhältnismäßig einen geringeren Bruchteil der Gesamt-
bevölkerung ausmacht, so ist es doch nicht weniger zäh gewesen als das in den
anderen Provinzen.

Der tätigste und zielbewußteste Russifikator im Baltenlande, Fürst Sergei
Schachowskoi, 1885 bis 1894 Gouverneur von Estland, vermochte, gestützt durch
das Regime Alexanders des Dritten, wohl als schroffer Satrap das deutsche
(übrigens auch das chemische) Element in seinem Gouvernement brutal zu ver-
gewaltigen, den Oberbürgermeister von Reval seines Amtes zu entsetzen, die
orthodoxe Konversion mit dem Beistande Pobjedonosszews zu fördern — auf die
Dauer mußte er in manchem Schamade blasen und in der letzten Zeit seines
Lebens von leitender Stelle her die rügenden, ihn tief verletzenden Worte hören,
er treibe eine Verärgerungspolitik, mit der seinem kaiserlichen Herrn nicht ge¬
dient sei.

Auf dem Lande blieb der Grundbesitz, in den Städten der Handel, die sich
in Reval seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts entwickelnde In¬
dustrie, blieb überhaupt „Bildung und Besitz" zumeist doch in deutschen Händen.

Das Jahr 1905 brachte die Konstitution, zugleich den baltischen Deutschen
eine gewisse Erleichterung, indem ihnen der Unterhalt von Privatschulen in weiterem
Umfang als bisher zugestanden wurde. Der „Deutsche Verein" in Estland war


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[0255] Im chemisch-baltischen Gebiet während des Weltkrieges zogen werden und daß eine eindringende Besinnung sich auf die Frage lenkt, wie weit sich heute tatsächlich die Daseinsinteressen der deutschen Arbeiterschaft mit dem Bestehen und dem Gedeihen des Deutschen Reiches verflochten haben, und welche Forderungen dadurch der zukünftigen Politik unserer Arbeiterschaft er¬ wachsen. Diese Fragen sollen in den folgenden Heften einer grundsätzlichen Er¬ örterung unterzogen werden. Im chemisch-baltischen Gebiet während des Weltkrieges und der Revolution .'5?/ MMlitau und vor allem Riga haben Schweres gelitten ; sie find herrlich erlöst worden. Die nördlichen chemischen Gebiete des Baltikums ! standen von jeher in näherer Beziehung zu Petersburg und unter seinem unmittelbaren Druck; wurde doch speziell Reval auch inner- ^ halb der Ostseeprovinzen mitunter als „Vorstadt von Petersburg" bezeichnet. Aber wenn auch das deutsche Element hier im Norden des Ostsee¬ landes, in Nachbarschaft von Finnland, in manchem anders geartet ist als das sonstige baltische, auch verhältnismäßig einen geringeren Bruchteil der Gesamt- bevölkerung ausmacht, so ist es doch nicht weniger zäh gewesen als das in den anderen Provinzen. Der tätigste und zielbewußteste Russifikator im Baltenlande, Fürst Sergei Schachowskoi, 1885 bis 1894 Gouverneur von Estland, vermochte, gestützt durch das Regime Alexanders des Dritten, wohl als schroffer Satrap das deutsche (übrigens auch das chemische) Element in seinem Gouvernement brutal zu ver- gewaltigen, den Oberbürgermeister von Reval seines Amtes zu entsetzen, die orthodoxe Konversion mit dem Beistande Pobjedonosszews zu fördern — auf die Dauer mußte er in manchem Schamade blasen und in der letzten Zeit seines Lebens von leitender Stelle her die rügenden, ihn tief verletzenden Worte hören, er treibe eine Verärgerungspolitik, mit der seinem kaiserlichen Herrn nicht ge¬ dient sei. Auf dem Lande blieb der Grundbesitz, in den Städten der Handel, die sich in Reval seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts entwickelnde In¬ dustrie, blieb überhaupt „Bildung und Besitz" zumeist doch in deutschen Händen. Das Jahr 1905 brachte die Konstitution, zugleich den baltischen Deutschen eine gewisse Erleichterung, indem ihnen der Unterhalt von Privatschulen in weiterem Umfang als bisher zugestanden wurde. Der „Deutsche Verein" in Estland war

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332712/255>, abgerufen am 31.08.2024.