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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Wiehern und die Gefängnisreform
Wilhelm Speck von

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HM
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AMor einiger Zeit habe ich in den Grenzboten die Legende vom
Bankerott des Strafvollzugs einer Prüfung unterzogen und dar¬
gelegt, daß es nicht richtig ist, die Misere des zunehmenden Ver¬
brechertums ganz allein oder auch nur vorzugsweise auf Mängel
des Strafvollzugs zurückzuführen. Zugleich wünschte ich, einer
neuerdings mehrfach literarisch verfochtnen Meinung, die angeblichen Mißerfolge
des Strafvollzugs seien von seiner Durchtränkung mit erzieherischen Motiven
verursacht, entgegenzutreten und wollte sie als einen seltsamen und großen
Irrtum bezeichnen, dessen Konsequenz zu überwundnen und schon lange als ver¬
derblich erkannten Zuständen zurückdrängen müßte. Ich darf das damalige
Thema heute noch einmal aufnehmen, da das Erscheinen des vierten Bandes
der gesammelten Schriften v. Johann Heinrich Wieherns*), worin uns dessen
Gedankenarbeit auf dem Felde der Gefäugnisrcform zugänglich gemacht wird,
ganz von selbst zu einem weitern Verfolgen des Themas hindrängt.

Es ist begreiflich, daß sich die noch immer lebhaft geführte Diskussion der
Gcfüngnisfrage hauptsächlich in der Bahn einer kritischen Musterung der bestehenden
Zustände bewegt, daß positive Vorschläge aber nur spärlich dargeboten werden.
Eine wesentlich kritische Betrachtungsweise führt aber leicht zur Unterschätzung und
zum Übersehen des tatsächlich vorhandnen Guten und Wertvollen. Das Auge
verliert sich unter Einzelheiten, die verallgemeinert werden, obwohl sie vielleicht
reine Zufälligkeiten sind, ihre Beseitigung erscheint einfach, ihr Vorkommen un¬
begreiflich, weil man ihre tiefern Ursachen und Zusammenhänge ohne eigentliche
Fachkenntnis nicht zu übersehen vermag. Die Berechtigung einer offnen und
unter Umständen einer herben Kritik kann nicht bestritten werden. Die Voll¬
streckung der Freiheitsstrafe ist eine so ernste und folgenschwere Sache, Fehler
darin können so verhängnisvolle, der Allgemeinheit fühlbar werdende Wirkungen
haben, daß der gute Rat der Verständigen jederzeit willkommen geheißen werden
muß. Glaubt man aber, der Strafvollzug hätte einen langen Dornröschenschlaf
gehalten, woraus er nun von schmetternden Fanfaren geweckt werde, und denkt



^) Hamburg, Rauhes Haus, ISOü.
Grenzboten IN Z90570


Wiehern und die Gefängnisreform
Wilhelm Speck von

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AMor einiger Zeit habe ich in den Grenzboten die Legende vom
Bankerott des Strafvollzugs einer Prüfung unterzogen und dar¬
gelegt, daß es nicht richtig ist, die Misere des zunehmenden Ver¬
brechertums ganz allein oder auch nur vorzugsweise auf Mängel
des Strafvollzugs zurückzuführen. Zugleich wünschte ich, einer
neuerdings mehrfach literarisch verfochtnen Meinung, die angeblichen Mißerfolge
des Strafvollzugs seien von seiner Durchtränkung mit erzieherischen Motiven
verursacht, entgegenzutreten und wollte sie als einen seltsamen und großen
Irrtum bezeichnen, dessen Konsequenz zu überwundnen und schon lange als ver¬
derblich erkannten Zuständen zurückdrängen müßte. Ich darf das damalige
Thema heute noch einmal aufnehmen, da das Erscheinen des vierten Bandes
der gesammelten Schriften v. Johann Heinrich Wieherns*), worin uns dessen
Gedankenarbeit auf dem Felde der Gefäugnisrcform zugänglich gemacht wird,
ganz von selbst zu einem weitern Verfolgen des Themas hindrängt.

Es ist begreiflich, daß sich die noch immer lebhaft geführte Diskussion der
Gcfüngnisfrage hauptsächlich in der Bahn einer kritischen Musterung der bestehenden
Zustände bewegt, daß positive Vorschläge aber nur spärlich dargeboten werden.
Eine wesentlich kritische Betrachtungsweise führt aber leicht zur Unterschätzung und
zum Übersehen des tatsächlich vorhandnen Guten und Wertvollen. Das Auge
verliert sich unter Einzelheiten, die verallgemeinert werden, obwohl sie vielleicht
reine Zufälligkeiten sind, ihre Beseitigung erscheint einfach, ihr Vorkommen un¬
begreiflich, weil man ihre tiefern Ursachen und Zusammenhänge ohne eigentliche
Fachkenntnis nicht zu übersehen vermag. Die Berechtigung einer offnen und
unter Umständen einer herben Kritik kann nicht bestritten werden. Die Voll¬
streckung der Freiheitsstrafe ist eine so ernste und folgenschwere Sache, Fehler
darin können so verhängnisvolle, der Allgemeinheit fühlbar werdende Wirkungen
haben, daß der gute Rat der Verständigen jederzeit willkommen geheißen werden
muß. Glaubt man aber, der Strafvollzug hätte einen langen Dornröschenschlaf
gehalten, woraus er nun von schmetternden Fanfaren geweckt werde, und denkt



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[0633] [Abbildung] Wiehern und die Gefängnisreform Wilhelm Speck von ^E^^O^HG^ HM ^MM^ AMor einiger Zeit habe ich in den Grenzboten die Legende vom Bankerott des Strafvollzugs einer Prüfung unterzogen und dar¬ gelegt, daß es nicht richtig ist, die Misere des zunehmenden Ver¬ brechertums ganz allein oder auch nur vorzugsweise auf Mängel des Strafvollzugs zurückzuführen. Zugleich wünschte ich, einer neuerdings mehrfach literarisch verfochtnen Meinung, die angeblichen Mißerfolge des Strafvollzugs seien von seiner Durchtränkung mit erzieherischen Motiven verursacht, entgegenzutreten und wollte sie als einen seltsamen und großen Irrtum bezeichnen, dessen Konsequenz zu überwundnen und schon lange als ver¬ derblich erkannten Zuständen zurückdrängen müßte. Ich darf das damalige Thema heute noch einmal aufnehmen, da das Erscheinen des vierten Bandes der gesammelten Schriften v. Johann Heinrich Wieherns*), worin uns dessen Gedankenarbeit auf dem Felde der Gefäugnisrcform zugänglich gemacht wird, ganz von selbst zu einem weitern Verfolgen des Themas hindrängt. Es ist begreiflich, daß sich die noch immer lebhaft geführte Diskussion der Gcfüngnisfrage hauptsächlich in der Bahn einer kritischen Musterung der bestehenden Zustände bewegt, daß positive Vorschläge aber nur spärlich dargeboten werden. Eine wesentlich kritische Betrachtungsweise führt aber leicht zur Unterschätzung und zum Übersehen des tatsächlich vorhandnen Guten und Wertvollen. Das Auge verliert sich unter Einzelheiten, die verallgemeinert werden, obwohl sie vielleicht reine Zufälligkeiten sind, ihre Beseitigung erscheint einfach, ihr Vorkommen un¬ begreiflich, weil man ihre tiefern Ursachen und Zusammenhänge ohne eigentliche Fachkenntnis nicht zu übersehen vermag. Die Berechtigung einer offnen und unter Umständen einer herben Kritik kann nicht bestritten werden. Die Voll¬ streckung der Freiheitsstrafe ist eine so ernste und folgenschwere Sache, Fehler darin können so verhängnisvolle, der Allgemeinheit fühlbar werdende Wirkungen haben, daß der gute Rat der Verständigen jederzeit willkommen geheißen werden muß. Glaubt man aber, der Strafvollzug hätte einen langen Dornröschenschlaf gehalten, woraus er nun von schmetternden Fanfaren geweckt werde, und denkt ^) Hamburg, Rauhes Haus, ISOü. Grenzboten IN Z90570

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/633>, abgerufen am 27.09.2024.