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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Junge Herzen

Nein, heulte Preber, der Blumentopf ist ganz heil geblieben, bloß die Hya¬
zinthe ist abgebrochen.

Sieh doch, ob sich das Kind nichts getan hat! sagte Frau Lönberg.

Der Apotheker eilte hinaus.

Sie sah sich in dem kleinen Zimmer um und sagte: Wenn jetzt hier in der
Gegend von Erzieherinnen die Rede ist, so kann sich Frau Ludvigsen nicht mehr
halb so wichtig machen wie bisher. Von heute Abend an habe ich anch ein Wort
mitzureden!

In diesem Augenblicke hörte man ein lautes Stoßen auf den Dielen der Flur;
die Tür tat sich auf, und Großmutter trat langsam ein, einen Stock in der Hand.

Was willst du. Mutter?

Großmutter sah sich um und sagte mit tiefer Stimme: Dein Werk bewundern!

Die Tochter lächelte ängstlich.

Was ist das für eine Vogelscheuche? sagte Großmutter und zeigte mit dem
Stock auf eine Lithographie, die über dem Bett hing.

Vogelscheuche! -- das ist ja einer von den alten gräflichen Ahnen aus dem
Dreißigjährigen Kriege.

Der soll wohl beim Unterrichte benutzt werden?

Wie meinst du das?

Als Anschauungsmittel in der Weltgeschichte und Vaterlandskunde, sagte Gro߬
mutter und ging hinaus.


2. Nachtgedanken

Der Dampfer fuhr über das Kattegatt. Er steuerte auf Jütland zu. Auf
Deck war es still und einsam. Der Kapitän stand auf der Kommandobrücke, und
der Steuermann am Ruder. Eine zierliche Gestalt wanderte auf und nieder und
spähte über die See hinaus. Es war ein junges Mädchen, das nie zuvor auf
den schäumenden Wellenbergen geschaukelt worden war und das zum erstenmal in
seinem Leben das imponierende Schauspiel einer Mondnacht auf See genoß. Über
die schimmernde, wogende Brücke schweiften ihre Gedanken zu der fremden Küste
hinüber, an der ihre Zukunft wachsen sollte. Aus dem stillen Heim in Kopenhagen
reiste sie jetzt nach Jütland hinüber.

Sie wollte aus das Land und hoffte, dort alles das zu finden, wovon sie
gelesen hatte: frische Naturmenschen, ländliche Freuden, Wagen- und Schlittenfahrten,
gemütliche Pfarrhäuser, gemütliche Landleute.

Es war Ende April. Die hellen Nächte waren noch nicht angebrochen, heute
aber ersetzte sie der Mond.

Der Kapitän sah erstaunt dem jungen Mädchen nach; er hörte, wie sie ein Lied
summte, dessen Töne und Rhythmus von einer so überströmenden Lebensfreude
zeugten, daß er den Steuermann warnen mußte, der, als er sie so mitten im
Mondschein stehn sah, den Kurs einen Strich zu weit nach Backbord hielt.

In ihr wogte ein leuchtender, brausender Strom, ganz wie die Wasser des
Meeres, auf die sie hinaus sah. Und halblaut summte sie ein Lied vor sich hin,
das sie einmal gelesen hatte:

Die Kajütenwärterin, die ein wenig eingenickt gewesen war, vermißte die eine
Dame und war besorgt um ihre Koje und das zu erwartende Trinkgeld. Sie fuhr
deswegen etwas erschrocken in die Höhe, beruhigte sich aber, als die junge Dame


Junge Herzen

Nein, heulte Preber, der Blumentopf ist ganz heil geblieben, bloß die Hya¬
zinthe ist abgebrochen.

Sieh doch, ob sich das Kind nichts getan hat! sagte Frau Lönberg.

Der Apotheker eilte hinaus.

Sie sah sich in dem kleinen Zimmer um und sagte: Wenn jetzt hier in der
Gegend von Erzieherinnen die Rede ist, so kann sich Frau Ludvigsen nicht mehr
halb so wichtig machen wie bisher. Von heute Abend an habe ich anch ein Wort
mitzureden!

In diesem Augenblicke hörte man ein lautes Stoßen auf den Dielen der Flur;
die Tür tat sich auf, und Großmutter trat langsam ein, einen Stock in der Hand.

Was willst du. Mutter?

Großmutter sah sich um und sagte mit tiefer Stimme: Dein Werk bewundern!

Die Tochter lächelte ängstlich.

Was ist das für eine Vogelscheuche? sagte Großmutter und zeigte mit dem
Stock auf eine Lithographie, die über dem Bett hing.

Vogelscheuche! — das ist ja einer von den alten gräflichen Ahnen aus dem
Dreißigjährigen Kriege.

Der soll wohl beim Unterrichte benutzt werden?

Wie meinst du das?

Als Anschauungsmittel in der Weltgeschichte und Vaterlandskunde, sagte Gro߬
mutter und ging hinaus.


2. Nachtgedanken

Der Dampfer fuhr über das Kattegatt. Er steuerte auf Jütland zu. Auf
Deck war es still und einsam. Der Kapitän stand auf der Kommandobrücke, und
der Steuermann am Ruder. Eine zierliche Gestalt wanderte auf und nieder und
spähte über die See hinaus. Es war ein junges Mädchen, das nie zuvor auf
den schäumenden Wellenbergen geschaukelt worden war und das zum erstenmal in
seinem Leben das imponierende Schauspiel einer Mondnacht auf See genoß. Über
die schimmernde, wogende Brücke schweiften ihre Gedanken zu der fremden Küste
hinüber, an der ihre Zukunft wachsen sollte. Aus dem stillen Heim in Kopenhagen
reiste sie jetzt nach Jütland hinüber.

Sie wollte aus das Land und hoffte, dort alles das zu finden, wovon sie
gelesen hatte: frische Naturmenschen, ländliche Freuden, Wagen- und Schlittenfahrten,
gemütliche Pfarrhäuser, gemütliche Landleute.

Es war Ende April. Die hellen Nächte waren noch nicht angebrochen, heute
aber ersetzte sie der Mond.

Der Kapitän sah erstaunt dem jungen Mädchen nach; er hörte, wie sie ein Lied
summte, dessen Töne und Rhythmus von einer so überströmenden Lebensfreude
zeugten, daß er den Steuermann warnen mußte, der, als er sie so mitten im
Mondschein stehn sah, den Kurs einen Strich zu weit nach Backbord hielt.

In ihr wogte ein leuchtender, brausender Strom, ganz wie die Wasser des
Meeres, auf die sie hinaus sah. Und halblaut summte sie ein Lied vor sich hin,
das sie einmal gelesen hatte:

Die Kajütenwärterin, die ein wenig eingenickt gewesen war, vermißte die eine
Dame und war besorgt um ihre Koje und das zu erwartende Trinkgeld. Sie fuhr
deswegen etwas erschrocken in die Höhe, beruhigte sich aber, als die junge Dame


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[0442] Junge Herzen Nein, heulte Preber, der Blumentopf ist ganz heil geblieben, bloß die Hya¬ zinthe ist abgebrochen. Sieh doch, ob sich das Kind nichts getan hat! sagte Frau Lönberg. Der Apotheker eilte hinaus. Sie sah sich in dem kleinen Zimmer um und sagte: Wenn jetzt hier in der Gegend von Erzieherinnen die Rede ist, so kann sich Frau Ludvigsen nicht mehr halb so wichtig machen wie bisher. Von heute Abend an habe ich anch ein Wort mitzureden! In diesem Augenblicke hörte man ein lautes Stoßen auf den Dielen der Flur; die Tür tat sich auf, und Großmutter trat langsam ein, einen Stock in der Hand. Was willst du. Mutter? Großmutter sah sich um und sagte mit tiefer Stimme: Dein Werk bewundern! Die Tochter lächelte ängstlich. Was ist das für eine Vogelscheuche? sagte Großmutter und zeigte mit dem Stock auf eine Lithographie, die über dem Bett hing. Vogelscheuche! — das ist ja einer von den alten gräflichen Ahnen aus dem Dreißigjährigen Kriege. Der soll wohl beim Unterrichte benutzt werden? Wie meinst du das? Als Anschauungsmittel in der Weltgeschichte und Vaterlandskunde, sagte Gro߬ mutter und ging hinaus. 2. Nachtgedanken Der Dampfer fuhr über das Kattegatt. Er steuerte auf Jütland zu. Auf Deck war es still und einsam. Der Kapitän stand auf der Kommandobrücke, und der Steuermann am Ruder. Eine zierliche Gestalt wanderte auf und nieder und spähte über die See hinaus. Es war ein junges Mädchen, das nie zuvor auf den schäumenden Wellenbergen geschaukelt worden war und das zum erstenmal in seinem Leben das imponierende Schauspiel einer Mondnacht auf See genoß. Über die schimmernde, wogende Brücke schweiften ihre Gedanken zu der fremden Küste hinüber, an der ihre Zukunft wachsen sollte. Aus dem stillen Heim in Kopenhagen reiste sie jetzt nach Jütland hinüber. Sie wollte aus das Land und hoffte, dort alles das zu finden, wovon sie gelesen hatte: frische Naturmenschen, ländliche Freuden, Wagen- und Schlittenfahrten, gemütliche Pfarrhäuser, gemütliche Landleute. Es war Ende April. Die hellen Nächte waren noch nicht angebrochen, heute aber ersetzte sie der Mond. Der Kapitän sah erstaunt dem jungen Mädchen nach; er hörte, wie sie ein Lied summte, dessen Töne und Rhythmus von einer so überströmenden Lebensfreude zeugten, daß er den Steuermann warnen mußte, der, als er sie so mitten im Mondschein stehn sah, den Kurs einen Strich zu weit nach Backbord hielt. In ihr wogte ein leuchtender, brausender Strom, ganz wie die Wasser des Meeres, auf die sie hinaus sah. Und halblaut summte sie ein Lied vor sich hin, das sie einmal gelesen hatte: Die Kajütenwärterin, die ein wenig eingenickt gewesen war, vermißte die eine Dame und war besorgt um ihre Koje und das zu erwartende Trinkgeld. Sie fuhr deswegen etwas erschrocken in die Höhe, beruhigte sich aber, als die junge Dame

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/442>, abgerufen am 27.09.2024.