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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Schulfragen

Reinheit einer hohen Seele wie Iphigenie entflammen sollen! Wozu der ganze
Aufwand von Zeit, Kraft und Scharfsinn, den die Abiturientenprüfung fordert?
Wenn ein Lehrerkollegium nach zwei- bis dreijähriger Arbeit nicht ohne Prüfung
beurteilen kann, ob ein Schüler die geistige und die sittliche Reife zum Übertritt
ins Leben oder zum Besuch der Hochschule hat, dann soll es sich pensionieren
lassen. Wenn man aber die Prüfung als Kontrolle für die Arbeit der Lehrer
benutzen will, so heißt das einen ehrenwerten Stand beleidigen. Nur Persönlich¬
keiten können Persönlichkeiten bilden, und auch nur dann, wenn ihnen die größte
Freiheit in der Betätigung ihrer Vorzüge gewährt wird. Die Abiturienten¬
prüfung aber führt meist zum Drill und läßt den armen Schüler nicht zum
ruhigen, reinen Genuß der herrlichen Schönheiten kommen, die gerade in den
letzten Jahren der Schulzeit an seinem Auge vorüberziehn. Das Schreckgespenst
der Prüfung wird ihm fast jeden Tag vorgeführt; man halte Umfrage bei den
Nervenärzten, und man wird staunen über die Verheerungen, die unser Schul¬
betrieb anrichtet. Was vor hundert Jahren erträglich war, kann heute tief
schädigend wirken, und wenn das feststeht, dann muß eben Abhilfe geschafft
werden, ohne daß dabei Lebensinteressen des Staates und der menschlichen Ge¬
meinschaft geschädigt werden. Durch die Abschaffung der Abiturientenprüfung
geschieht das sicher nicht; bekümmerten Vätern und Müttern aber wird dadurch
ein Stein von der Seele gewälzt. Unsre deutschen Jungen aber werden auch
ohne Abgangsprüfung zeigen, daß sie pflichttreue, gewissenhafte, mutige Männer
werden können.

Fassen wir noch einmal die Vorschläge für die Entlastung der Schüler
unsrer höhern Lehranstalten zusammen, so ergeben sich folgende:

1. Herabsetzung der Wochenstundenzahl auf höchstens dreißig,
2. für die Großstädte ungelenker Vormittagsunterricht,
3. Beschränkung auf zwei fremde Sprachen,
4. Hinausschiebung des Anfangsunterrichts in der ersten fremden Sprache,
5. größere Freiheit im Unterrichtsbetrieb der Oberstufe,
6. Abschaffung der Abiturientenprüfung.

2. Mehr Freude an der Schule

Mit dem Glückwunsch "Mehr Freude an der Schule" hat Geheimrat
Matthias das erste Heft des neuen Jahrgangs seiner Monatsschrift in die Welt
geschickt; er wünscht mehr Freude an der Schule "uns allen, die wir an der
Schule oder für die Schule wirken und leben." Wir bekennen, lange nicht ein
so freundliches Wort von oben gehört zu haben, und drücken sicher die Empfin¬
dungen unsers gesamten Standes aus, wenn wir dem verehrten Herrn Verfasser
der Neujahrsbetrachtung herzlichen Dank aussprechen. Es ist erfreulich, aus dem
Munde eines e?rtar^de^ und en^r"^ zu hören, daß nicht der Lehrer allein
schuld an der weitverbreiteten, durch Presse und Bühne geschürten Mißstimmung
gegen die höhere Schule ist, er klagt auch das System an, ja mit liberaler
Offenheit auch -- die Behörden selbst.

Aber auch da, wo er Fehler und Schwächen des Lehrpersonals dafür
verantwortlich macht, verurteilt er nicht ohne weiteres, sondern entschuldigt und


Schulfragen

Reinheit einer hohen Seele wie Iphigenie entflammen sollen! Wozu der ganze
Aufwand von Zeit, Kraft und Scharfsinn, den die Abiturientenprüfung fordert?
Wenn ein Lehrerkollegium nach zwei- bis dreijähriger Arbeit nicht ohne Prüfung
beurteilen kann, ob ein Schüler die geistige und die sittliche Reife zum Übertritt
ins Leben oder zum Besuch der Hochschule hat, dann soll es sich pensionieren
lassen. Wenn man aber die Prüfung als Kontrolle für die Arbeit der Lehrer
benutzen will, so heißt das einen ehrenwerten Stand beleidigen. Nur Persönlich¬
keiten können Persönlichkeiten bilden, und auch nur dann, wenn ihnen die größte
Freiheit in der Betätigung ihrer Vorzüge gewährt wird. Die Abiturienten¬
prüfung aber führt meist zum Drill und läßt den armen Schüler nicht zum
ruhigen, reinen Genuß der herrlichen Schönheiten kommen, die gerade in den
letzten Jahren der Schulzeit an seinem Auge vorüberziehn. Das Schreckgespenst
der Prüfung wird ihm fast jeden Tag vorgeführt; man halte Umfrage bei den
Nervenärzten, und man wird staunen über die Verheerungen, die unser Schul¬
betrieb anrichtet. Was vor hundert Jahren erträglich war, kann heute tief
schädigend wirken, und wenn das feststeht, dann muß eben Abhilfe geschafft
werden, ohne daß dabei Lebensinteressen des Staates und der menschlichen Ge¬
meinschaft geschädigt werden. Durch die Abschaffung der Abiturientenprüfung
geschieht das sicher nicht; bekümmerten Vätern und Müttern aber wird dadurch
ein Stein von der Seele gewälzt. Unsre deutschen Jungen aber werden auch
ohne Abgangsprüfung zeigen, daß sie pflichttreue, gewissenhafte, mutige Männer
werden können.

Fassen wir noch einmal die Vorschläge für die Entlastung der Schüler
unsrer höhern Lehranstalten zusammen, so ergeben sich folgende:

1. Herabsetzung der Wochenstundenzahl auf höchstens dreißig,
2. für die Großstädte ungelenker Vormittagsunterricht,
3. Beschränkung auf zwei fremde Sprachen,
4. Hinausschiebung des Anfangsunterrichts in der ersten fremden Sprache,
5. größere Freiheit im Unterrichtsbetrieb der Oberstufe,
6. Abschaffung der Abiturientenprüfung.

2. Mehr Freude an der Schule

Mit dem Glückwunsch „Mehr Freude an der Schule" hat Geheimrat
Matthias das erste Heft des neuen Jahrgangs seiner Monatsschrift in die Welt
geschickt; er wünscht mehr Freude an der Schule „uns allen, die wir an der
Schule oder für die Schule wirken und leben." Wir bekennen, lange nicht ein
so freundliches Wort von oben gehört zu haben, und drücken sicher die Empfin¬
dungen unsers gesamten Standes aus, wenn wir dem verehrten Herrn Verfasser
der Neujahrsbetrachtung herzlichen Dank aussprechen. Es ist erfreulich, aus dem
Munde eines e?rtar^de^ und en^r«^ zu hören, daß nicht der Lehrer allein
schuld an der weitverbreiteten, durch Presse und Bühne geschürten Mißstimmung
gegen die höhere Schule ist, er klagt auch das System an, ja mit liberaler
Offenheit auch — die Behörden selbst.

Aber auch da, wo er Fehler und Schwächen des Lehrpersonals dafür
verantwortlich macht, verurteilt er nicht ohne weiteres, sondern entschuldigt und


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[0416] Schulfragen Reinheit einer hohen Seele wie Iphigenie entflammen sollen! Wozu der ganze Aufwand von Zeit, Kraft und Scharfsinn, den die Abiturientenprüfung fordert? Wenn ein Lehrerkollegium nach zwei- bis dreijähriger Arbeit nicht ohne Prüfung beurteilen kann, ob ein Schüler die geistige und die sittliche Reife zum Übertritt ins Leben oder zum Besuch der Hochschule hat, dann soll es sich pensionieren lassen. Wenn man aber die Prüfung als Kontrolle für die Arbeit der Lehrer benutzen will, so heißt das einen ehrenwerten Stand beleidigen. Nur Persönlich¬ keiten können Persönlichkeiten bilden, und auch nur dann, wenn ihnen die größte Freiheit in der Betätigung ihrer Vorzüge gewährt wird. Die Abiturienten¬ prüfung aber führt meist zum Drill und läßt den armen Schüler nicht zum ruhigen, reinen Genuß der herrlichen Schönheiten kommen, die gerade in den letzten Jahren der Schulzeit an seinem Auge vorüberziehn. Das Schreckgespenst der Prüfung wird ihm fast jeden Tag vorgeführt; man halte Umfrage bei den Nervenärzten, und man wird staunen über die Verheerungen, die unser Schul¬ betrieb anrichtet. Was vor hundert Jahren erträglich war, kann heute tief schädigend wirken, und wenn das feststeht, dann muß eben Abhilfe geschafft werden, ohne daß dabei Lebensinteressen des Staates und der menschlichen Ge¬ meinschaft geschädigt werden. Durch die Abschaffung der Abiturientenprüfung geschieht das sicher nicht; bekümmerten Vätern und Müttern aber wird dadurch ein Stein von der Seele gewälzt. Unsre deutschen Jungen aber werden auch ohne Abgangsprüfung zeigen, daß sie pflichttreue, gewissenhafte, mutige Männer werden können. Fassen wir noch einmal die Vorschläge für die Entlastung der Schüler unsrer höhern Lehranstalten zusammen, so ergeben sich folgende: 1. Herabsetzung der Wochenstundenzahl auf höchstens dreißig, 2. für die Großstädte ungelenker Vormittagsunterricht, 3. Beschränkung auf zwei fremde Sprachen, 4. Hinausschiebung des Anfangsunterrichts in der ersten fremden Sprache, 5. größere Freiheit im Unterrichtsbetrieb der Oberstufe, 6. Abschaffung der Abiturientenprüfung. 2. Mehr Freude an der Schule Mit dem Glückwunsch „Mehr Freude an der Schule" hat Geheimrat Matthias das erste Heft des neuen Jahrgangs seiner Monatsschrift in die Welt geschickt; er wünscht mehr Freude an der Schule „uns allen, die wir an der Schule oder für die Schule wirken und leben." Wir bekennen, lange nicht ein so freundliches Wort von oben gehört zu haben, und drücken sicher die Empfin¬ dungen unsers gesamten Standes aus, wenn wir dem verehrten Herrn Verfasser der Neujahrsbetrachtung herzlichen Dank aussprechen. Es ist erfreulich, aus dem Munde eines e?rtar^de^ und en^r«^ zu hören, daß nicht der Lehrer allein schuld an der weitverbreiteten, durch Presse und Bühne geschürten Mißstimmung gegen die höhere Schule ist, er klagt auch das System an, ja mit liberaler Offenheit auch — die Behörden selbst. Aber auch da, wo er Fehler und Schwächen des Lehrpersonals dafür verantwortlich macht, verurteilt er nicht ohne weiteres, sondern entschuldigt und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/416>, abgerufen am 27.09.2024.