Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches ihm seien die Gesetzesreligion, das Zeremouienwesen und die spitzfindige Kasuistik Leo Berg selbst hat in diesem Jahre (bei Hüpeden und Merzyn) zwei starke Maßgebliches und Unmaßgebliches ihm seien die Gesetzesreligion, das Zeremouienwesen und die spitzfindige Kasuistik Leo Berg selbst hat in diesem Jahre (bei Hüpeden und Merzyn) zwei starke <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0338" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/297857"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_1580" prev="#ID_1579"> ihm seien die Gesetzesreligion, das Zeremouienwesen und die spitzfindige Kasuistik<lb/> der Juden hervorgegangen, was alles zwischen ihnen und den Völkern eine Scheide¬<lb/> wand aufgerichtet und so die Erhaltung ihrer Nationalität in der Zerstreuung be¬<lb/> wirkt habe, die wie ein Wunder aussehe. Die einzige Lösung der Judenfrage<lb/> würde darin bestehn, daß die Juden ihre Eigentümlichkeit aufgaben und mit den<lb/> Wirtsvölkern verschmölzen. Das werde freilich nicht so bald geschehen können, weil<lb/> im Osten Europas die Zahl der Juden so groß ist, daß ihre Masse von den Wirts¬<lb/> völkern nicht verdaut werden kann. Das Buch enthält viel Wahres, zum Beispiel<lb/> daß sich die Juden an jede Bewegung des modernen Geistes anhängen und sie<lb/> dadurch zugrunde richten, aber es ist zu grob naturalistisch, als daß es völlig wahr<lb/> sein könnte. Wir wenigstens glauben an die transzendente Ursache der eigentüm¬<lb/> lichen Schicksale des Judenvolks, an den Gott, der es zu seinem Werkzeuge erwählt<lb/> hat. Und in andrer Beziehung ist der Verfasser wieder zu wenig materialistisch,<lb/> da er die wirtschaftlichen Verhältnisse gar nicht erwähnt, die wirklich eine große<lb/> Rolle in allen Judenfrngen gespielt haben.</p><lb/> </div> <div n="2"> <head> Leo Berg</head> <p xml:id="ID_1581" next="#ID_1582"> selbst hat in diesem Jahre (bei Hüpeden und Merzyn) zwei starke<lb/> Bände — nicht als Nummern der Kulturprvbleme — veröffentlicht: Deutsche<lb/> Märchen des neunzehnten Jahrhunderts; eine Sammlung, die vierzehn Märchen<lb/> von Wieland, Goethe, Novalis, Ernst Moritz Arndt usw. enthält, mit einer Ein¬<lb/> leitung über das Wesen und die Berechtigung des modernen Märchens, und eine<lb/> Sammlung von Zeitschriftenaufsätzen unter dem Titel: Aus der Zeit — gegen<lb/> die Zeit. Er teilt diese Essays in drei Gruppen. Unter den „Charakteren und<lb/> Werken" finden wir auch Theodor Duimchen, den frühern Kaufmann, der seine<lb/> schriftstellerische Laufbahn in den Grenzboten begonnen hat. Berg rühmt ihn als<lb/> einen Meister in der Kunst des Erzählens. Außerdem bespricht er u. a. Grabbe,<lb/> Lenau, Raabe, Gorki. Er ist glücklich im Treffen gut charakterisierender Ausdrücke,<lb/> wie wenn er Emerson einen überzuckerten Puritaner nennt. Die zweite „Literatur<lb/> und Literaturmache" überschriebne Gruppe enthält u. a. eine Abhandlung über den<lb/> Aphorismus, in der Nietzsche bloß als Meister in dieser Kunstform gewürdigt wird,<lb/> dann über die politische Komödie, über das Publikum, „Zur Psychologie des Plagiats"<lb/> und über Bölsches „Liebesleben in der Natur." Diese Abhandlungen rechtfertigen<lb/> alle die Sonderaufgabe durch Gedanken, die der Aufbewahrung wert erscheinen.<lb/> In der zuerst genannten heißt es: „Die beiden Komödien von Sudermann (Sturm¬<lb/> geselle Sokrates) und Rosenow (Kater Lampe) sind schwach und unbedeutend; jene<lb/> vielleicht, weil der Autor nichts mehr kann, diese, weil ihr inzwischen verstorbner<lb/> Autor noch nichts Rechtes gekonnt hat. Sudermann hat möglicherweise in seinen<lb/> guten Tagen eine Intuition gehabt: was ist unser Liberalismus für ein dankbarer<lb/> Stoff für einen Komöden! Er glaubte eine politische Komödie zu schreiben, indem<lb/> er ein paar Idioten und ihre Albernheiten auf die Bühne brachte." Unser heutiges<lb/> Publikum, das die Künstler verdirbt und tyrannisiere und zur Strafe dafür das¬<lb/> selbe von ihnen erleidet, wird in Gegensatz gestellt zu dem aristokratischen Kunst¬<lb/> publikum früherer Zeiten, in denen gute Kunst und erfolgreiche Kunst zusammen¬<lb/> fiel. In dem Aufsatz über das Plagiat wird eine hübsche Anekdote erzählt.<lb/> Gymnasiasten bekommen als Aufsatzthema: den Inhalt eines Gedichts von Schiller<lb/> in Prosa und nicht mit den Worten des Dichters wiedergeben. Ein Junge, der<lb/> es nicht übers Herz bringt, seinen Lieblingsdichter zu mißhandeln, schreibt das<lb/> Gedicht einfach ab und erklärt: besser machen konnt ichs nicht, schlechter machen<lb/> wollt ichs nicht, und bekommt für diese Frechheit zwei Stunden Kärzer. Von<lb/> Wilhelm Bölsche hat der Rezensent nur Kleinigkeiten gelesen und daraufhin ge¬<lb/> legentlich einmal in den Grenzboten geäußert, daß er ihm zwar nicht als Natur¬<lb/> philosophen aber als Poeten des Darwinismus ganz gern einmal begegne. Nach<lb/> dem, was Leo Berg über das vielgelesene Buch dieses Poeten berichtet, müssen<lb/> wir das in jener Äußerung enthaltne Lob zurücknehmen; nach diesem Bericht ist<lb/> Bölsche gemein und sonst nichts. Berg wundert sich darüber, daß sich Häckel diesen<lb/> Bölsche als Jünger und Ruhmesherold gefallen lasse. Als Philosoph habe sich ja</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0338]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
ihm seien die Gesetzesreligion, das Zeremouienwesen und die spitzfindige Kasuistik
der Juden hervorgegangen, was alles zwischen ihnen und den Völkern eine Scheide¬
wand aufgerichtet und so die Erhaltung ihrer Nationalität in der Zerstreuung be¬
wirkt habe, die wie ein Wunder aussehe. Die einzige Lösung der Judenfrage
würde darin bestehn, daß die Juden ihre Eigentümlichkeit aufgaben und mit den
Wirtsvölkern verschmölzen. Das werde freilich nicht so bald geschehen können, weil
im Osten Europas die Zahl der Juden so groß ist, daß ihre Masse von den Wirts¬
völkern nicht verdaut werden kann. Das Buch enthält viel Wahres, zum Beispiel
daß sich die Juden an jede Bewegung des modernen Geistes anhängen und sie
dadurch zugrunde richten, aber es ist zu grob naturalistisch, als daß es völlig wahr
sein könnte. Wir wenigstens glauben an die transzendente Ursache der eigentüm¬
lichen Schicksale des Judenvolks, an den Gott, der es zu seinem Werkzeuge erwählt
hat. Und in andrer Beziehung ist der Verfasser wieder zu wenig materialistisch,
da er die wirtschaftlichen Verhältnisse gar nicht erwähnt, die wirklich eine große
Rolle in allen Judenfrngen gespielt haben.
Leo Berg selbst hat in diesem Jahre (bei Hüpeden und Merzyn) zwei starke
Bände — nicht als Nummern der Kulturprvbleme — veröffentlicht: Deutsche
Märchen des neunzehnten Jahrhunderts; eine Sammlung, die vierzehn Märchen
von Wieland, Goethe, Novalis, Ernst Moritz Arndt usw. enthält, mit einer Ein¬
leitung über das Wesen und die Berechtigung des modernen Märchens, und eine
Sammlung von Zeitschriftenaufsätzen unter dem Titel: Aus der Zeit — gegen
die Zeit. Er teilt diese Essays in drei Gruppen. Unter den „Charakteren und
Werken" finden wir auch Theodor Duimchen, den frühern Kaufmann, der seine
schriftstellerische Laufbahn in den Grenzboten begonnen hat. Berg rühmt ihn als
einen Meister in der Kunst des Erzählens. Außerdem bespricht er u. a. Grabbe,
Lenau, Raabe, Gorki. Er ist glücklich im Treffen gut charakterisierender Ausdrücke,
wie wenn er Emerson einen überzuckerten Puritaner nennt. Die zweite „Literatur
und Literaturmache" überschriebne Gruppe enthält u. a. eine Abhandlung über den
Aphorismus, in der Nietzsche bloß als Meister in dieser Kunstform gewürdigt wird,
dann über die politische Komödie, über das Publikum, „Zur Psychologie des Plagiats"
und über Bölsches „Liebesleben in der Natur." Diese Abhandlungen rechtfertigen
alle die Sonderaufgabe durch Gedanken, die der Aufbewahrung wert erscheinen.
In der zuerst genannten heißt es: „Die beiden Komödien von Sudermann (Sturm¬
geselle Sokrates) und Rosenow (Kater Lampe) sind schwach und unbedeutend; jene
vielleicht, weil der Autor nichts mehr kann, diese, weil ihr inzwischen verstorbner
Autor noch nichts Rechtes gekonnt hat. Sudermann hat möglicherweise in seinen
guten Tagen eine Intuition gehabt: was ist unser Liberalismus für ein dankbarer
Stoff für einen Komöden! Er glaubte eine politische Komödie zu schreiben, indem
er ein paar Idioten und ihre Albernheiten auf die Bühne brachte." Unser heutiges
Publikum, das die Künstler verdirbt und tyrannisiere und zur Strafe dafür das¬
selbe von ihnen erleidet, wird in Gegensatz gestellt zu dem aristokratischen Kunst¬
publikum früherer Zeiten, in denen gute Kunst und erfolgreiche Kunst zusammen¬
fiel. In dem Aufsatz über das Plagiat wird eine hübsche Anekdote erzählt.
Gymnasiasten bekommen als Aufsatzthema: den Inhalt eines Gedichts von Schiller
in Prosa und nicht mit den Worten des Dichters wiedergeben. Ein Junge, der
es nicht übers Herz bringt, seinen Lieblingsdichter zu mißhandeln, schreibt das
Gedicht einfach ab und erklärt: besser machen konnt ichs nicht, schlechter machen
wollt ichs nicht, und bekommt für diese Frechheit zwei Stunden Kärzer. Von
Wilhelm Bölsche hat der Rezensent nur Kleinigkeiten gelesen und daraufhin ge¬
legentlich einmal in den Grenzboten geäußert, daß er ihm zwar nicht als Natur¬
philosophen aber als Poeten des Darwinismus ganz gern einmal begegne. Nach
dem, was Leo Berg über das vielgelesene Buch dieses Poeten berichtet, müssen
wir das in jener Äußerung enthaltne Lob zurücknehmen; nach diesem Bericht ist
Bölsche gemein und sonst nichts. Berg wundert sich darüber, daß sich Häckel diesen
Bölsche als Jünger und Ruhmesherold gefallen lasse. Als Philosoph habe sich ja
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