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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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vom deutschen Theater

Tode des Despoten, das ja einem innigen Wunsche seine Entstehung verdanken
mochte, weiter verbreitet.

Nach dem Erzählten wird es den Leser nicht wundernehmen, zu hören,
daß in Afghanistan auch das Abschneiden von Ohren und Nasen gebräuchlich
ist, selbstverständlich nur als Strafe für geringfügige Vergehn. Wenn ein Händler
in Kabul seinen Verkaufsladen zu spät schließt, kann es ihm widerfahren, daß
er mit seinen Ohren dafür büßen muß. Ein solcher Fall ereignete sich Ende
Dezember 1899. Der Besitzer eines kleinen Geschäftsladens in Kabul wurde
vom Bürgermeister wegen verspäteten Ladenschlusses zum Verluste seiner Nase
und beider Ohren verurteilt. Der Mann wandte sich in seiner Not an den Emir,
der ihn vor sich kommen ließ und auf die Bitte des armen Teufels, man möge
ihm wenigstens die Nase im Gesichte lassen, er wolle sie bezahlen, den gnädigen
Bescheid von sich gab: Gut, geh, lasse dir deine Nase schätzen. Sie wurde mit
2000 Rupien bewertet. Jedenfalls war vorher ermittelt worden, wieviel der
arme Mensch zu zahlen vermöge. Die 2000 Rupien flössen in den Geldbeutel
des Emirs, und der Händler verlor nur seine Ohren. Einen andern Händler,
der auch durch einen Urteilsspruch des Bürgermeisters wegen verspäteten Schließens
seines Ladens die Ohren verloren hatte, sah ich mit eignen Augen. Er ver¬
barg seine Verunstaltung durch den Turban. Die Ohrmuscheln waren ihm
knapp am Schädel abgeschnitten worden. Auch für diese barbarischen Ver¬
stümmlungen trifft den Emir die Schuld, da es ganz und gar von ihm abhing,
der abscheulichen Gepflogenheit ein Ende zu bereiten, die allein schon seiner
Herrschaft ein unauslöschliches Schandmal aufdrückt.

(Fortsetzung folgt)




Vom deutschen Theater

l eitschriften wie die Grenzboten, die sich nur verhältnismäßig selten
mit der Besprechung erscheinender Bücher beschäftigen können, haben
dadurch eins voraus. Der Umstand, daß sie einem Buch einen
besondern, namentlich einen lungern Artikel widmen, ist für ihre
! Leser ein Wink, daß ein Werk in Frage ist, dem von dem Bericht¬
erstatter, sei es mit Recht, sei es mit Unrecht, eine besondre Bedeutung bei¬
gemessen wird.

"Das deutsche Theater im neunzehnten Jahrhundert" von Max Marter¬
steig*) würde, wenn es nicht eine kulturgeschichtliche Darstellung, sondern eine
Chronik, ein Samuel- und Nachschlagewerk wäre, bei allem Nutzen, den ein
solches Werk den verschiedensten Kreisen bieten könnte, kaum zu einer längern
Besprechung und jedenfalls nicht zu einer solchen Veranlassung geben, bei der
die Erörterung des Standpunkts, von dem aus das Buch geschrieben ist, einer



") Leipzig, 1904, Breitkopf und Hciriel.
vom deutschen Theater

Tode des Despoten, das ja einem innigen Wunsche seine Entstehung verdanken
mochte, weiter verbreitet.

Nach dem Erzählten wird es den Leser nicht wundernehmen, zu hören,
daß in Afghanistan auch das Abschneiden von Ohren und Nasen gebräuchlich
ist, selbstverständlich nur als Strafe für geringfügige Vergehn. Wenn ein Händler
in Kabul seinen Verkaufsladen zu spät schließt, kann es ihm widerfahren, daß
er mit seinen Ohren dafür büßen muß. Ein solcher Fall ereignete sich Ende
Dezember 1899. Der Besitzer eines kleinen Geschäftsladens in Kabul wurde
vom Bürgermeister wegen verspäteten Ladenschlusses zum Verluste seiner Nase
und beider Ohren verurteilt. Der Mann wandte sich in seiner Not an den Emir,
der ihn vor sich kommen ließ und auf die Bitte des armen Teufels, man möge
ihm wenigstens die Nase im Gesichte lassen, er wolle sie bezahlen, den gnädigen
Bescheid von sich gab: Gut, geh, lasse dir deine Nase schätzen. Sie wurde mit
2000 Rupien bewertet. Jedenfalls war vorher ermittelt worden, wieviel der
arme Mensch zu zahlen vermöge. Die 2000 Rupien flössen in den Geldbeutel
des Emirs, und der Händler verlor nur seine Ohren. Einen andern Händler,
der auch durch einen Urteilsspruch des Bürgermeisters wegen verspäteten Schließens
seines Ladens die Ohren verloren hatte, sah ich mit eignen Augen. Er ver¬
barg seine Verunstaltung durch den Turban. Die Ohrmuscheln waren ihm
knapp am Schädel abgeschnitten worden. Auch für diese barbarischen Ver¬
stümmlungen trifft den Emir die Schuld, da es ganz und gar von ihm abhing,
der abscheulichen Gepflogenheit ein Ende zu bereiten, die allein schon seiner
Herrschaft ein unauslöschliches Schandmal aufdrückt.

(Fortsetzung folgt)




Vom deutschen Theater

l eitschriften wie die Grenzboten, die sich nur verhältnismäßig selten
mit der Besprechung erscheinender Bücher beschäftigen können, haben
dadurch eins voraus. Der Umstand, daß sie einem Buch einen
besondern, namentlich einen lungern Artikel widmen, ist für ihre
! Leser ein Wink, daß ein Werk in Frage ist, dem von dem Bericht¬
erstatter, sei es mit Recht, sei es mit Unrecht, eine besondre Bedeutung bei¬
gemessen wird.

„Das deutsche Theater im neunzehnten Jahrhundert" von Max Marter¬
steig*) würde, wenn es nicht eine kulturgeschichtliche Darstellung, sondern eine
Chronik, ein Samuel- und Nachschlagewerk wäre, bei allem Nutzen, den ein
solches Werk den verschiedensten Kreisen bieten könnte, kaum zu einer längern
Besprechung und jedenfalls nicht zu einer solchen Veranlassung geben, bei der
die Erörterung des Standpunkts, von dem aus das Buch geschrieben ist, einer



") Leipzig, 1904, Breitkopf und Hciriel.
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[0251] vom deutschen Theater Tode des Despoten, das ja einem innigen Wunsche seine Entstehung verdanken mochte, weiter verbreitet. Nach dem Erzählten wird es den Leser nicht wundernehmen, zu hören, daß in Afghanistan auch das Abschneiden von Ohren und Nasen gebräuchlich ist, selbstverständlich nur als Strafe für geringfügige Vergehn. Wenn ein Händler in Kabul seinen Verkaufsladen zu spät schließt, kann es ihm widerfahren, daß er mit seinen Ohren dafür büßen muß. Ein solcher Fall ereignete sich Ende Dezember 1899. Der Besitzer eines kleinen Geschäftsladens in Kabul wurde vom Bürgermeister wegen verspäteten Ladenschlusses zum Verluste seiner Nase und beider Ohren verurteilt. Der Mann wandte sich in seiner Not an den Emir, der ihn vor sich kommen ließ und auf die Bitte des armen Teufels, man möge ihm wenigstens die Nase im Gesichte lassen, er wolle sie bezahlen, den gnädigen Bescheid von sich gab: Gut, geh, lasse dir deine Nase schätzen. Sie wurde mit 2000 Rupien bewertet. Jedenfalls war vorher ermittelt worden, wieviel der arme Mensch zu zahlen vermöge. Die 2000 Rupien flössen in den Geldbeutel des Emirs, und der Händler verlor nur seine Ohren. Einen andern Händler, der auch durch einen Urteilsspruch des Bürgermeisters wegen verspäteten Schließens seines Ladens die Ohren verloren hatte, sah ich mit eignen Augen. Er ver¬ barg seine Verunstaltung durch den Turban. Die Ohrmuscheln waren ihm knapp am Schädel abgeschnitten worden. Auch für diese barbarischen Ver¬ stümmlungen trifft den Emir die Schuld, da es ganz und gar von ihm abhing, der abscheulichen Gepflogenheit ein Ende zu bereiten, die allein schon seiner Herrschaft ein unauslöschliches Schandmal aufdrückt. (Fortsetzung folgt) Vom deutschen Theater l eitschriften wie die Grenzboten, die sich nur verhältnismäßig selten mit der Besprechung erscheinender Bücher beschäftigen können, haben dadurch eins voraus. Der Umstand, daß sie einem Buch einen besondern, namentlich einen lungern Artikel widmen, ist für ihre ! Leser ein Wink, daß ein Werk in Frage ist, dem von dem Bericht¬ erstatter, sei es mit Recht, sei es mit Unrecht, eine besondre Bedeutung bei¬ gemessen wird. „Das deutsche Theater im neunzehnten Jahrhundert" von Max Marter¬ steig*) würde, wenn es nicht eine kulturgeschichtliche Darstellung, sondern eine Chronik, ein Samuel- und Nachschlagewerk wäre, bei allem Nutzen, den ein solches Werk den verschiedensten Kreisen bieten könnte, kaum zu einer längern Besprechung und jedenfalls nicht zu einer solchen Veranlassung geben, bei der die Erörterung des Standpunkts, von dem aus das Buch geschrieben ist, einer ") Leipzig, 1904, Breitkopf und Hciriel.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/251>, abgerufen am 27.09.2024.