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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Die Engel auf Grden.
Roman von Viktor Bersezio. Aus dem Italienischen.
(Fortsetzung.)

n diesem Augenblicke erkannte auch Guido, der alles mit weitauf¬
gerissenen Augen verfolgte, den Gaukler wieder und sagte, indem
er mit dem Finger auf ihn wies, zu seiner Mutter: O sieh!
Das ist der Mann, dem wir heute Morgen begegnet sind.
Der Eindruck, den das auf den Gaukler machte, läßt sich nicht be¬
schreiben. Das Ausstrecken dieses zarten Fingers war schlimmer als
eine gefährliche Drohung; diese kleinen, lebhaften Augen, welche ihn mit so neugie¬
riger Erwartung ansahen, erfüllten sein Herz mit unüberwindlichem Entsetzen. Die
Kräfte versagten ihm, und Leichenblässe bedeckte sein Gesicht. Er schüttelte seinen
Genossen, der sich ihm bereits auf die Schultern geschwungen hatte, von sich ab und
ließ ihn heftig auf die Erde fallen, dann stützte er sich auf den Nächststehenden
und flüsterte ihm einige Worte ins Ohr. Die Gaukler gruppirten sich unruhig
um ihn, schienen erschrocken und ärgerlich zugleich zu sein und ihm Vorstellungen
zu machen; aber Carcijo hörte nicht auf sie, sondern stieß die ihn Umstehenden
heftig zurück und war im Nu hinter dem Vorhange verschwunden. Die von
ihm im Stiche gelassenen Gaukler folgten ihm sämtlich in größter Verwirrung,
und ein allgemeines Gemurmel gab sich auf den Bänken der Zuschauer kund.

Was soll das heißen? Was habt Ihr? Was für eine Tollheit ist das?
So riefen im Chor die um Carcijo gedrängten Akrobaten in drohender Weise.
Wollt Ihr, daß die Vorstellung ausfallen soll?

Carajo preßte die Stirn mit den Händen, ohne zu antworten. Endlich
aber raffte er sich auf und fuhr sie gebieterisch an. Wer wagt es, mir hier
Vorstellungen zu machen? Und wenn ich euch jetzt auf der Stelle verlassen
und meine Straße ziehen wollte, wer Hütte das Recht, mich davon abzuhalten
und mich auch nur zu fragen, warum ich gehe und wohin ich gehe? Was habe
ich euch gesagt, als ich mich zu euch gesellte? Daß ich mir die Freiheit aller
meiner Handlungen vorbehalte. Und wenn es mir heute gefällt, nichts zu thun,
so will ich dal'el bleiben, und wenn es mir morgen einfüllt, mich von euch zu
trennen, so kann ich das ohne weiteres thun. Euch habe ich aufgelesen, als ihr
verhungert und zerrissen zu mir kamt, nicht ihr habt mich aufgelesen. Euch habe
ich an meine Person gefesselt, nicht ich habe mich an eure Brüderschaft ge-


Grenzbotcn III. 1884. 61


Die Engel auf Grden.
Roman von Viktor Bersezio. Aus dem Italienischen.
(Fortsetzung.)

n diesem Augenblicke erkannte auch Guido, der alles mit weitauf¬
gerissenen Augen verfolgte, den Gaukler wieder und sagte, indem
er mit dem Finger auf ihn wies, zu seiner Mutter: O sieh!
Das ist der Mann, dem wir heute Morgen begegnet sind.
Der Eindruck, den das auf den Gaukler machte, läßt sich nicht be¬
schreiben. Das Ausstrecken dieses zarten Fingers war schlimmer als
eine gefährliche Drohung; diese kleinen, lebhaften Augen, welche ihn mit so neugie¬
riger Erwartung ansahen, erfüllten sein Herz mit unüberwindlichem Entsetzen. Die
Kräfte versagten ihm, und Leichenblässe bedeckte sein Gesicht. Er schüttelte seinen
Genossen, der sich ihm bereits auf die Schultern geschwungen hatte, von sich ab und
ließ ihn heftig auf die Erde fallen, dann stützte er sich auf den Nächststehenden
und flüsterte ihm einige Worte ins Ohr. Die Gaukler gruppirten sich unruhig
um ihn, schienen erschrocken und ärgerlich zugleich zu sein und ihm Vorstellungen
zu machen; aber Carcijo hörte nicht auf sie, sondern stieß die ihn Umstehenden
heftig zurück und war im Nu hinter dem Vorhange verschwunden. Die von
ihm im Stiche gelassenen Gaukler folgten ihm sämtlich in größter Verwirrung,
und ein allgemeines Gemurmel gab sich auf den Bänken der Zuschauer kund.

Was soll das heißen? Was habt Ihr? Was für eine Tollheit ist das?
So riefen im Chor die um Carcijo gedrängten Akrobaten in drohender Weise.
Wollt Ihr, daß die Vorstellung ausfallen soll?

Carajo preßte die Stirn mit den Händen, ohne zu antworten. Endlich
aber raffte er sich auf und fuhr sie gebieterisch an. Wer wagt es, mir hier
Vorstellungen zu machen? Und wenn ich euch jetzt auf der Stelle verlassen
und meine Straße ziehen wollte, wer Hütte das Recht, mich davon abzuhalten
und mich auch nur zu fragen, warum ich gehe und wohin ich gehe? Was habe
ich euch gesagt, als ich mich zu euch gesellte? Daß ich mir die Freiheit aller
meiner Handlungen vorbehalte. Und wenn es mir heute gefällt, nichts zu thun,
so will ich dal'el bleiben, und wenn es mir morgen einfüllt, mich von euch zu
trennen, so kann ich das ohne weiteres thun. Euch habe ich aufgelesen, als ihr
verhungert und zerrissen zu mir kamt, nicht ihr habt mich aufgelesen. Euch habe
ich an meine Person gefesselt, nicht ich habe mich an eure Brüderschaft ge-


Grenzbotcn III. 1884. 61
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[0489] [Abbildung] Die Engel auf Grden. Roman von Viktor Bersezio. Aus dem Italienischen. (Fortsetzung.) n diesem Augenblicke erkannte auch Guido, der alles mit weitauf¬ gerissenen Augen verfolgte, den Gaukler wieder und sagte, indem er mit dem Finger auf ihn wies, zu seiner Mutter: O sieh! Das ist der Mann, dem wir heute Morgen begegnet sind. Der Eindruck, den das auf den Gaukler machte, läßt sich nicht be¬ schreiben. Das Ausstrecken dieses zarten Fingers war schlimmer als eine gefährliche Drohung; diese kleinen, lebhaften Augen, welche ihn mit so neugie¬ riger Erwartung ansahen, erfüllten sein Herz mit unüberwindlichem Entsetzen. Die Kräfte versagten ihm, und Leichenblässe bedeckte sein Gesicht. Er schüttelte seinen Genossen, der sich ihm bereits auf die Schultern geschwungen hatte, von sich ab und ließ ihn heftig auf die Erde fallen, dann stützte er sich auf den Nächststehenden und flüsterte ihm einige Worte ins Ohr. Die Gaukler gruppirten sich unruhig um ihn, schienen erschrocken und ärgerlich zugleich zu sein und ihm Vorstellungen zu machen; aber Carcijo hörte nicht auf sie, sondern stieß die ihn Umstehenden heftig zurück und war im Nu hinter dem Vorhange verschwunden. Die von ihm im Stiche gelassenen Gaukler folgten ihm sämtlich in größter Verwirrung, und ein allgemeines Gemurmel gab sich auf den Bänken der Zuschauer kund. Was soll das heißen? Was habt Ihr? Was für eine Tollheit ist das? So riefen im Chor die um Carcijo gedrängten Akrobaten in drohender Weise. Wollt Ihr, daß die Vorstellung ausfallen soll? Carajo preßte die Stirn mit den Händen, ohne zu antworten. Endlich aber raffte er sich auf und fuhr sie gebieterisch an. Wer wagt es, mir hier Vorstellungen zu machen? Und wenn ich euch jetzt auf der Stelle verlassen und meine Straße ziehen wollte, wer Hütte das Recht, mich davon abzuhalten und mich auch nur zu fragen, warum ich gehe und wohin ich gehe? Was habe ich euch gesagt, als ich mich zu euch gesellte? Daß ich mir die Freiheit aller meiner Handlungen vorbehalte. Und wenn es mir heute gefällt, nichts zu thun, so will ich dal'el bleiben, und wenn es mir morgen einfüllt, mich von euch zu trennen, so kann ich das ohne weiteres thun. Euch habe ich aufgelesen, als ihr verhungert und zerrissen zu mir kamt, nicht ihr habt mich aufgelesen. Euch habe ich an meine Person gefesselt, nicht ich habe mich an eure Brüderschaft ge- Grenzbotcn III. 1884. 61

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/489>, abgerufen am 27.09.2024.