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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

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Die bevorstehenden bayerischen Wahlen.

Die Landtagswahlen, auf welche man sich gegenwärtig in Hannover und
in Nassau rüstet, versprechen mit größter Wahrscheinlichkeit der deutschen Fort¬
schrittspartei eine zuverlässige Mehrheit. In Bayern dagegen wird dieselbe von
Glück sagen können, wenn es ihr gelingt, sich zu einer numerisch nicht ganz
verschwindenden Minderheit zu verstärken. Die vorige Abgeordnetenkammer
war zu einer Zeit gewählt, wo noch alle diejenigen zusammengingen, welche
aus der Verfassung Herrn v. d. Pfordten zum Trotze eine Wahrheit machen
wollten; erst im weiteren Verlauf ihrer Wirksamkeit schied sich die liberale und
conservativ-liberale Mehrheit in Particularisten und Nationalgesinnte, wobei
die Letzteren kaum viel mehr als ein Dutzend von den 140--50 Sitzen der
Kammer behaupteten. Sie hoffen jetzt, es bis etwa aus zwei Dutzend zu brin¬
gen. Von einer der Mehrheit nahekommenden Minderheit ist also, wie man
sieht, keine Rede. Die Fortschrittspartei wird sich nach wie vor in der Noth¬
wendigkeit befinden, durch Energie und Konsequenz ihre numerische Schwäche
einigermaßen zu verdecken. Und auch um dieses bescheidene Resultat zu er¬
reichen, sind die äußersten Anstrengungen erforderlich, deren man in Deutschland
heutzutage fähig ist.

Die Auflösung traf die Opposition vollkommen unvorbereitet. Kammer
und Regierung hatten mit einander so friedlich gelebt, daß der Gedanke, die
Erstere werde eines andern als eines natürlichen Todes sterben, Niemandem bei¬
gehen konnte. Aber der particularistische Jnstinct ist in Bayern stärker ent¬
wickelt als selbst in den übrigen Mittelstaaten, und er fand heraus, daß ein
günstigerer Augenblick als der jetzige für die Neuwahl nicht erscheinen konnte.
Das Mandat der vorigen Kammer würde im December des Jahres 1864 er¬
loschen sein. Es läßt sich klar genug voraussehen, daß bis zu diesem Zeitpunkt
die Zollvereinswirren eine gefährliche Gestalt angenommen und die Gemüther
von Grund aus aufgeregt haben müssen. Wie sich dann die Mehrheit der Be¬
völkerung zu dem Handelsvertrage mit Frankreich stellen, ob sie dann auch noch
mit dem Hofrath v. Kerstorf lieber zehn Zollvereine opfern als ein Stückelchen
Von Bayerns Selbständigkeit fahren lassen, oder ob sie den Zollverein wird er-


Grenzboten II. 1SKS. 6
Die bevorstehenden bayerischen Wahlen.

Die Landtagswahlen, auf welche man sich gegenwärtig in Hannover und
in Nassau rüstet, versprechen mit größter Wahrscheinlichkeit der deutschen Fort¬
schrittspartei eine zuverlässige Mehrheit. In Bayern dagegen wird dieselbe von
Glück sagen können, wenn es ihr gelingt, sich zu einer numerisch nicht ganz
verschwindenden Minderheit zu verstärken. Die vorige Abgeordnetenkammer
war zu einer Zeit gewählt, wo noch alle diejenigen zusammengingen, welche
aus der Verfassung Herrn v. d. Pfordten zum Trotze eine Wahrheit machen
wollten; erst im weiteren Verlauf ihrer Wirksamkeit schied sich die liberale und
conservativ-liberale Mehrheit in Particularisten und Nationalgesinnte, wobei
die Letzteren kaum viel mehr als ein Dutzend von den 140—50 Sitzen der
Kammer behaupteten. Sie hoffen jetzt, es bis etwa aus zwei Dutzend zu brin¬
gen. Von einer der Mehrheit nahekommenden Minderheit ist also, wie man
sieht, keine Rede. Die Fortschrittspartei wird sich nach wie vor in der Noth¬
wendigkeit befinden, durch Energie und Konsequenz ihre numerische Schwäche
einigermaßen zu verdecken. Und auch um dieses bescheidene Resultat zu er¬
reichen, sind die äußersten Anstrengungen erforderlich, deren man in Deutschland
heutzutage fähig ist.

Die Auflösung traf die Opposition vollkommen unvorbereitet. Kammer
und Regierung hatten mit einander so friedlich gelebt, daß der Gedanke, die
Erstere werde eines andern als eines natürlichen Todes sterben, Niemandem bei¬
gehen konnte. Aber der particularistische Jnstinct ist in Bayern stärker ent¬
wickelt als selbst in den übrigen Mittelstaaten, und er fand heraus, daß ein
günstigerer Augenblick als der jetzige für die Neuwahl nicht erscheinen konnte.
Das Mandat der vorigen Kammer würde im December des Jahres 1864 er¬
loschen sein. Es läßt sich klar genug voraussehen, daß bis zu diesem Zeitpunkt
die Zollvereinswirren eine gefährliche Gestalt angenommen und die Gemüther
von Grund aus aufgeregt haben müssen. Wie sich dann die Mehrheit der Be¬
völkerung zu dem Handelsvertrage mit Frankreich stellen, ob sie dann auch noch
mit dem Hofrath v. Kerstorf lieber zehn Zollvereine opfern als ein Stückelchen
Von Bayerns Selbständigkeit fahren lassen, oder ob sie den Zollverein wird er-


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[0045] Die bevorstehenden bayerischen Wahlen. Die Landtagswahlen, auf welche man sich gegenwärtig in Hannover und in Nassau rüstet, versprechen mit größter Wahrscheinlichkeit der deutschen Fort¬ schrittspartei eine zuverlässige Mehrheit. In Bayern dagegen wird dieselbe von Glück sagen können, wenn es ihr gelingt, sich zu einer numerisch nicht ganz verschwindenden Minderheit zu verstärken. Die vorige Abgeordnetenkammer war zu einer Zeit gewählt, wo noch alle diejenigen zusammengingen, welche aus der Verfassung Herrn v. d. Pfordten zum Trotze eine Wahrheit machen wollten; erst im weiteren Verlauf ihrer Wirksamkeit schied sich die liberale und conservativ-liberale Mehrheit in Particularisten und Nationalgesinnte, wobei die Letzteren kaum viel mehr als ein Dutzend von den 140—50 Sitzen der Kammer behaupteten. Sie hoffen jetzt, es bis etwa aus zwei Dutzend zu brin¬ gen. Von einer der Mehrheit nahekommenden Minderheit ist also, wie man sieht, keine Rede. Die Fortschrittspartei wird sich nach wie vor in der Noth¬ wendigkeit befinden, durch Energie und Konsequenz ihre numerische Schwäche einigermaßen zu verdecken. Und auch um dieses bescheidene Resultat zu er¬ reichen, sind die äußersten Anstrengungen erforderlich, deren man in Deutschland heutzutage fähig ist. Die Auflösung traf die Opposition vollkommen unvorbereitet. Kammer und Regierung hatten mit einander so friedlich gelebt, daß der Gedanke, die Erstere werde eines andern als eines natürlichen Todes sterben, Niemandem bei¬ gehen konnte. Aber der particularistische Jnstinct ist in Bayern stärker ent¬ wickelt als selbst in den übrigen Mittelstaaten, und er fand heraus, daß ein günstigerer Augenblick als der jetzige für die Neuwahl nicht erscheinen konnte. Das Mandat der vorigen Kammer würde im December des Jahres 1864 er¬ loschen sein. Es läßt sich klar genug voraussehen, daß bis zu diesem Zeitpunkt die Zollvereinswirren eine gefährliche Gestalt angenommen und die Gemüther von Grund aus aufgeregt haben müssen. Wie sich dann die Mehrheit der Be¬ völkerung zu dem Handelsvertrage mit Frankreich stellen, ob sie dann auch noch mit dem Hofrath v. Kerstorf lieber zehn Zollvereine opfern als ein Stückelchen Von Bayerns Selbständigkeit fahren lassen, oder ob sie den Zollverein wird er- Grenzboten II. 1SKS. 6

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/45>, abgerufen am 27.09.2024.