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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

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Kunst verletzt. Doch ehe wir mit dem Leser von Bau zu Bau gehen, mag er
sich ein flüchtiges Bild des allgemeinen Eindrucks erwarten. Schon der erste
Gang durch die neue Straße zeigt dem nicht ganz ungeübten Auge eine dünne,
schwindsüchtige, auf Stelzen gehende Fratze der großen Architektur, ein Flick-
werk, in dem aus allen Jahrhunderten das Schlechtere gewählt und zusammen¬
hangslos aneinandergereiht ist, und übrigens das Beiwerk des Mittelalters, nur
versetzt bisweilen mit einer verschwindend kleinen Erinnerung aus der classischen
Zeit, in kenntnißloser Weise angewendet, vorwiegt; in dem das Obere nach
unten gekehrt, das schwere Ende auf den dünnen Anfang gesetzt ist, der an¬
spruchsvolle Ansatz von unten nach oben in nichts verläuft, keine Form durch¬
geführt, kein Gleichgewicht der Massen, kein Verhältniß, das Wesentliche ver¬
gessen, das Unwesentliche vorgedrängt ist. Wie der Bau, so ist auch das
Ornament behandelt: von kläglicher, rohester Erfindung, ohne Anmuth und
Durchbildung der Form, sitzt es überdies fast immer an der unrechten Stelle.
So findet das Auge nichts als den leeren Schein, welcher, das Gegentheil
des phantasievollen Scheins, der den Inhalt zur ausdrucksvollen Form heraus¬
bildet, nur das todte Spiel einer gedankenlosen Willkür ist; nichts als die plumpe
handgreifliche Lüge, welche die überallher geliehenen Formen als trügerische
Maske braucht, und daher den Zweck in der Gestalt des Baues nicht ausspricht,
sondern verfälscht; nichts endlich als den nüchternen Spuk einer armen und daher
geschraubten, gewaltsamen Erfindung, die nicht einmal den Reiz eines märchen¬
haften Einfalls hat.

Von den Werten des neuen Stils betrachten wir zunächst die öffentlichen
Gebäude.

Das Regierungsgebäude

zeigt schon in der Anlage ein Mißverhältniß. Es ist, wohl aus Mangel an
Platz nach der Tiefe, in einen einzigen langen und schmalen Streifen an¬
geordnet und steht so von vornherein als langgestreckter ausgezogener Bau mit
seiner stark vorwiegenden Verticalglicderung in einem unorganischen Contrast.
Zugleich ist damit der mannigfaltige Reichthum der Innenarchitektur ab¬
geschnitten. Das Mittelalter wie die Renaissance hatten ein besonderes Ge¬
schick, die schöne Außengcstalt ihrer öffentlichen Gebäude in das Innere gleich¬
sam fortzuführen; sie verstanden es, mit ihren stattlichen Arkadenhöfen, den
malerischen Verbindungen und Durchsichten der Bogengänge, dem belebenden
Brunnen in der Mitte den Eintretenden in eine heimliche Stimmung zu ver¬
setzen, während hier gleich hinter der Fayade die Langeweile des Geschäfts be¬
ginnt. Aber auch die Zweckmäßigkeit leidet unter jener Anordnung. Die
Naumvertheilung kann nur unpraktisch ausfallen; die hier beschäftigten Beamten
werden sich in dem langgedehnten Raum über Mangel an Bewegung nicht
beklagen können. Auch ist durch die äußeren Arkaden den Zimmern des Erd-


Kunst verletzt. Doch ehe wir mit dem Leser von Bau zu Bau gehen, mag er
sich ein flüchtiges Bild des allgemeinen Eindrucks erwarten. Schon der erste
Gang durch die neue Straße zeigt dem nicht ganz ungeübten Auge eine dünne,
schwindsüchtige, auf Stelzen gehende Fratze der großen Architektur, ein Flick-
werk, in dem aus allen Jahrhunderten das Schlechtere gewählt und zusammen¬
hangslos aneinandergereiht ist, und übrigens das Beiwerk des Mittelalters, nur
versetzt bisweilen mit einer verschwindend kleinen Erinnerung aus der classischen
Zeit, in kenntnißloser Weise angewendet, vorwiegt; in dem das Obere nach
unten gekehrt, das schwere Ende auf den dünnen Anfang gesetzt ist, der an¬
spruchsvolle Ansatz von unten nach oben in nichts verläuft, keine Form durch¬
geführt, kein Gleichgewicht der Massen, kein Verhältniß, das Wesentliche ver¬
gessen, das Unwesentliche vorgedrängt ist. Wie der Bau, so ist auch das
Ornament behandelt: von kläglicher, rohester Erfindung, ohne Anmuth und
Durchbildung der Form, sitzt es überdies fast immer an der unrechten Stelle.
So findet das Auge nichts als den leeren Schein, welcher, das Gegentheil
des phantasievollen Scheins, der den Inhalt zur ausdrucksvollen Form heraus¬
bildet, nur das todte Spiel einer gedankenlosen Willkür ist; nichts als die plumpe
handgreifliche Lüge, welche die überallher geliehenen Formen als trügerische
Maske braucht, und daher den Zweck in der Gestalt des Baues nicht ausspricht,
sondern verfälscht; nichts endlich als den nüchternen Spuk einer armen und daher
geschraubten, gewaltsamen Erfindung, die nicht einmal den Reiz eines märchen¬
haften Einfalls hat.

Von den Werten des neuen Stils betrachten wir zunächst die öffentlichen
Gebäude.

Das Regierungsgebäude

zeigt schon in der Anlage ein Mißverhältniß. Es ist, wohl aus Mangel an
Platz nach der Tiefe, in einen einzigen langen und schmalen Streifen an¬
geordnet und steht so von vornherein als langgestreckter ausgezogener Bau mit
seiner stark vorwiegenden Verticalglicderung in einem unorganischen Contrast.
Zugleich ist damit der mannigfaltige Reichthum der Innenarchitektur ab¬
geschnitten. Das Mittelalter wie die Renaissance hatten ein besonderes Ge¬
schick, die schöne Außengcstalt ihrer öffentlichen Gebäude in das Innere gleich¬
sam fortzuführen; sie verstanden es, mit ihren stattlichen Arkadenhöfen, den
malerischen Verbindungen und Durchsichten der Bogengänge, dem belebenden
Brunnen in der Mitte den Eintretenden in eine heimliche Stimmung zu ver¬
setzen, während hier gleich hinter der Fayade die Langeweile des Geschäfts be¬
ginnt. Aber auch die Zweckmäßigkeit leidet unter jener Anordnung. Die
Naumvertheilung kann nur unpraktisch ausfallen; die hier beschäftigten Beamten
werden sich in dem langgedehnten Raum über Mangel an Bewegung nicht
beklagen können. Auch ist durch die äußeren Arkaden den Zimmern des Erd-


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[0416] Kunst verletzt. Doch ehe wir mit dem Leser von Bau zu Bau gehen, mag er sich ein flüchtiges Bild des allgemeinen Eindrucks erwarten. Schon der erste Gang durch die neue Straße zeigt dem nicht ganz ungeübten Auge eine dünne, schwindsüchtige, auf Stelzen gehende Fratze der großen Architektur, ein Flick- werk, in dem aus allen Jahrhunderten das Schlechtere gewählt und zusammen¬ hangslos aneinandergereiht ist, und übrigens das Beiwerk des Mittelalters, nur versetzt bisweilen mit einer verschwindend kleinen Erinnerung aus der classischen Zeit, in kenntnißloser Weise angewendet, vorwiegt; in dem das Obere nach unten gekehrt, das schwere Ende auf den dünnen Anfang gesetzt ist, der an¬ spruchsvolle Ansatz von unten nach oben in nichts verläuft, keine Form durch¬ geführt, kein Gleichgewicht der Massen, kein Verhältniß, das Wesentliche ver¬ gessen, das Unwesentliche vorgedrängt ist. Wie der Bau, so ist auch das Ornament behandelt: von kläglicher, rohester Erfindung, ohne Anmuth und Durchbildung der Form, sitzt es überdies fast immer an der unrechten Stelle. So findet das Auge nichts als den leeren Schein, welcher, das Gegentheil des phantasievollen Scheins, der den Inhalt zur ausdrucksvollen Form heraus¬ bildet, nur das todte Spiel einer gedankenlosen Willkür ist; nichts als die plumpe handgreifliche Lüge, welche die überallher geliehenen Formen als trügerische Maske braucht, und daher den Zweck in der Gestalt des Baues nicht ausspricht, sondern verfälscht; nichts endlich als den nüchternen Spuk einer armen und daher geschraubten, gewaltsamen Erfindung, die nicht einmal den Reiz eines märchen¬ haften Einfalls hat. Von den Werten des neuen Stils betrachten wir zunächst die öffentlichen Gebäude. Das Regierungsgebäude zeigt schon in der Anlage ein Mißverhältniß. Es ist, wohl aus Mangel an Platz nach der Tiefe, in einen einzigen langen und schmalen Streifen an¬ geordnet und steht so von vornherein als langgestreckter ausgezogener Bau mit seiner stark vorwiegenden Verticalglicderung in einem unorganischen Contrast. Zugleich ist damit der mannigfaltige Reichthum der Innenarchitektur ab¬ geschnitten. Das Mittelalter wie die Renaissance hatten ein besonderes Ge¬ schick, die schöne Außengcstalt ihrer öffentlichen Gebäude in das Innere gleich¬ sam fortzuführen; sie verstanden es, mit ihren stattlichen Arkadenhöfen, den malerischen Verbindungen und Durchsichten der Bogengänge, dem belebenden Brunnen in der Mitte den Eintretenden in eine heimliche Stimmung zu ver¬ setzen, während hier gleich hinter der Fayade die Langeweile des Geschäfts be¬ ginnt. Aber auch die Zweckmäßigkeit leidet unter jener Anordnung. Die Naumvertheilung kann nur unpraktisch ausfallen; die hier beschäftigten Beamten werden sich in dem langgedehnten Raum über Mangel an Bewegung nicht beklagen können. Auch ist durch die äußeren Arkaden den Zimmern des Erd-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/416>, abgerufen am 27.09.2024.