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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

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Von der polnischen Grenze.

Gestern, am 3. Mai, dem Jahrestage der großen Eonstitutivn von 1701.,
sollte es wieder einmal hier "losgehn" und da mein Unglaube daran, daß sich
irgendwo in Zydowo oder Mielzyn eine provisorische Regierung aufthun oder
die kleine Garnison ersteren Ortes überfallen werden könne -- so ließ ich mir
von einem der Gläubigen den Begriff "losgehn" erklären -- starken Wider¬
spruch erfuhr, so mußte ich den heutigen Tag abwarten, um Ihnen an¬
zuzeigen, daß wir noch leben und daß die Provinz Posen noch ungeteilt im
Besitz Sr. Majestät ist. Freilich nicht unbewegt, ja ehrlich gesagt, auch nicht
ganz unangefochten.

Die Zuzüge freilich, von denen ich Ihnen neulich schrieb und über die
hier noch einige Ergänzungen folgen sollen, sind nur gegen Rußland gerichtet.
Indeß haben sie, von Patriotismus, Abenteuerlust und starkem moralischen
Zwang zusammengebracht, bis in diese Woche hinein fortgedauert. Wie weit
der Zwang dabei geht, läßt sich kaum beschreiben. Dort liegt der Brief eines
Schülers von dem nun definitiv aufgehobenen Gymnasium in Trzemeszno.
Der gute Junge verdankt die Möglichkeit zu studiren zwei wohlthätigen Oheimen,
und da er noch das närrische Ding, welches man Gewissen nennt, sprechen hört
und dies ihm etwas von Pflichten gegen seine Mutter und gegen seine Wohl¬
thäter erzählt, so bittet er einen derselben um Rath. "Er will ja nicht mit,
aber die Mitschüler beschimpfen ihn, drohen "ihm ins Auge zu spucken", und
der Schutz der Lehrer ist nicht allzuswk. Ja zum Theil stehen diese selbst
unter dem Druck. Wenn z. B. jetzt berichtet wird, daß wegen der fatalen
Vorgänge auf dem Gymnasium zu Ostrowo der dasige Religionslehrer in An¬
spruch genommen werden solle, so ist derselbe gewiß mons. Niuviva an die
Sache gegangen; noch vor acht Monaten war er ein Feind der Agitationen.
Ich habe jedoch mehr den Zwang ins Auge gefaßt, den Gutsbesitzer, Amts-
leute und Geistliche auf die Bauern und, da sie bei denen nicht viel ausrichten,
auf das ländliche Gesinde ausüben. Wenn der Herr Decem auf der Kegelbahn
des von ihm zusammengebrachten Handwerkervereins von entwaffneten preußi¬
schen Bataillonen erzählt, und wenn er, der dem "preußischen Könige" Treue
geschworen, an diese Jubelkunde die Aufforderung knüpft, nun doch ja recht
zahlreich "hinüberzuziehen", so versagt dieser Puff leider seine Wirkung. Desto
kräftiger ist diese aber auf dem hochadligen Dominium, dessen Amtmann ver¬
geblich zugeredet hat. Die Ansprache des Geistlichen, die Erinnerung an sein
eignes Martyrium, Verheißungen für dieses und das zukünftige Leben schlagen
durch.


Von der polnischen Grenze.

Gestern, am 3. Mai, dem Jahrestage der großen Eonstitutivn von 1701.,
sollte es wieder einmal hier „losgehn" und da mein Unglaube daran, daß sich
irgendwo in Zydowo oder Mielzyn eine provisorische Regierung aufthun oder
die kleine Garnison ersteren Ortes überfallen werden könne — so ließ ich mir
von einem der Gläubigen den Begriff „losgehn" erklären — starken Wider¬
spruch erfuhr, so mußte ich den heutigen Tag abwarten, um Ihnen an¬
zuzeigen, daß wir noch leben und daß die Provinz Posen noch ungeteilt im
Besitz Sr. Majestät ist. Freilich nicht unbewegt, ja ehrlich gesagt, auch nicht
ganz unangefochten.

Die Zuzüge freilich, von denen ich Ihnen neulich schrieb und über die
hier noch einige Ergänzungen folgen sollen, sind nur gegen Rußland gerichtet.
Indeß haben sie, von Patriotismus, Abenteuerlust und starkem moralischen
Zwang zusammengebracht, bis in diese Woche hinein fortgedauert. Wie weit
der Zwang dabei geht, läßt sich kaum beschreiben. Dort liegt der Brief eines
Schülers von dem nun definitiv aufgehobenen Gymnasium in Trzemeszno.
Der gute Junge verdankt die Möglichkeit zu studiren zwei wohlthätigen Oheimen,
und da er noch das närrische Ding, welches man Gewissen nennt, sprechen hört
und dies ihm etwas von Pflichten gegen seine Mutter und gegen seine Wohl¬
thäter erzählt, so bittet er einen derselben um Rath. „Er will ja nicht mit,
aber die Mitschüler beschimpfen ihn, drohen „ihm ins Auge zu spucken", und
der Schutz der Lehrer ist nicht allzuswk. Ja zum Theil stehen diese selbst
unter dem Druck. Wenn z. B. jetzt berichtet wird, daß wegen der fatalen
Vorgänge auf dem Gymnasium zu Ostrowo der dasige Religionslehrer in An¬
spruch genommen werden solle, so ist derselbe gewiß mons. Niuviva an die
Sache gegangen; noch vor acht Monaten war er ein Feind der Agitationen.
Ich habe jedoch mehr den Zwang ins Auge gefaßt, den Gutsbesitzer, Amts-
leute und Geistliche auf die Bauern und, da sie bei denen nicht viel ausrichten,
auf das ländliche Gesinde ausüben. Wenn der Herr Decem auf der Kegelbahn
des von ihm zusammengebrachten Handwerkervereins von entwaffneten preußi¬
schen Bataillonen erzählt, und wenn er, der dem „preußischen Könige" Treue
geschworen, an diese Jubelkunde die Aufforderung knüpft, nun doch ja recht
zahlreich „hinüberzuziehen", so versagt dieser Puff leider seine Wirkung. Desto
kräftiger ist diese aber auf dem hochadligen Dominium, dessen Amtmann ver¬
geblich zugeredet hat. Die Ansprache des Geistlichen, die Erinnerung an sein
eignes Martyrium, Verheißungen für dieses und das zukünftige Leben schlagen
durch.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/251>, abgerufen am 27.09.2024.