Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band.Rudolph Gottschall und die deutsche Lyrik. In den neuen Compendien der Literatur finden wir fast ohne Ausnahme die Was die Dichter der neuen Schule vou unsren älteren Lyrikern unterscheider, Grenzboten. IV. -I8W. 16
Rudolph Gottschall und die deutsche Lyrik. In den neuen Compendien der Literatur finden wir fast ohne Ausnahme die Was die Dichter der neuen Schule vou unsren älteren Lyrikern unterscheider, Grenzboten. IV. -I8W. 16
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Rudolph Gottschall und die deutsche Lyrik.
In den neuen Compendien der Literatur finden wir fast ohne Ausnahme die
Ansicht ausgesprochen, daß wir zwar in den anderen Gebieten der Dichtkunst seit
Goethe und Schiller keine erheblichen Fortschritte gemacht, daß wir aber in der
Lyrik jene Zeit bei weitem überflügelt hatten. Wir haben schon öfters die ent¬
gegengesetzte Meinung vertreten. Wir geben gern zu, daß in kleineren Ge¬
dichten sehr viel Gutes geleistet ist, obgleich wir doch kein Lied von Uhland oder
Heine wüßten, das wir etwa Goethe's Fischer an die Seite setzen konnten; aber
in größeren lyrischen Gedichten, in Gedichten von laugathmigcr Inspiration, wie
etwa Goethe's Braut von Korinth, Alexis und Dora, Bürger's Lenore, Schiller's
Götter Griechenlands, die Künstler u. s. w., können wir nicht finden, daß die
neuere Zeit etwas Lvbcnswcrthes producirt hätte; und in solchen größeren
Schöpfungen offenbart sich doch auch in der Lyrik vorzugsweise die Kraft der
Poesie.
Was die Dichter der neuen Schule vou unsren älteren Lyrikern unterscheider,
ist, daß sie niemals bei der Sache sind. Dies „bei der Sache sein",
was man gewöhnlich mit dem lateinischen Namen Objectivität bezeichnet, scheint
uns aber bei der Kunst die Hauptsache. Es ist in der Malerei eben so. Der
Künstler kann die brillantesten Farben und Linien anwenden, sie werden keinen
Eindruck macheu, wenn sie nicht der Sache angemessen sind, und wenn sie die
Einheit der Stimmung stören. Fast in keinem Zweige der Kunst wird aber die
Abweichung von diesem Gesetz so in's Große getrieben, als in der Lyrik. Man
gebraucht den Gegenstand fast lediglich dazu, eine Reihe brillanter Bilder, Re¬
flexionen, Gefühle daran anzuknüpfen, ohne sich im geringsten darum zu kümmern,
ob sie in irgend einem Verhältniß zum Gegenstand stehen. Daraus ergiebt sich
in. Beziehung auf die Form eine vollständige Slyllosigkeit, in Beziehung ans den
Inhalt ein breites coquettes Verweilen bei Nebensachen und eine leichtfertige
Hast in der Darstellung der Hauptsache, endlich in Beziehung auf die ideale
Grenzboten. IV. -I8W. 16
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