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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Einleitung.
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Geschichte der Poetik.



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Die ersten Dichter folgten in naiver Weise den Eingebungen der pgo_001.004
Begeisterung; das kritische Bewußtsein, das bei jeder freien Schöpfung pgo_001.005
vorhanden, war noch unzertrennlich mit der Jnspiration verknüpft. Dem pgo_001.006
Vorbild des Genius folgten die minder begabten Nachahmer, welche mit pgo_001.007
diesem Vorbilde zugleich die in Fleisch und Blut verwandelte ästhetische pgo_001.008
Regel überkamen.

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Am wenigsten war die orientalische Poesie, welche, wie jenes Riesenbild pgo_001.010
des Sohns der Morgenröthe unter den egyptischen Mimosen bei pgo_001.011
den Berührungen des ersten Sonnenstrahls, hymnenartig bei den pgo_001.012
Berührungen des Göttlichen ertönte, welche es in ihren Schöpfungen pgo_001.013
kaum zu organischer Gliederung brachte, dazu geeignet, ein klares pgo_001.014
Bewußtsein in Bezug auf die Gesetze des Schönen wach zu rufen. Erst pgo_001.015
als in Hellas die Kunst ihre klassische Blüthe erreicht, ja schon wieder pgo_001.016
hinter sich hatte, trat die Philosophie auf, um uns über das Wesen des pgo_001.017
Schönen und die Grundgesetze der einzelnen Dichtgattungen zu belehren.

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Eigenthümlich ist das Verhalten der beiden größten griechischen Denker pgo_001.019
zur Poesie. Der dichterische Plato wollte die Dichter aus seiner pgo_001.020
vollkommenen Republik verbannen, weil sie lügen und verkehrte Vorstellungen pgo_001.021
verbreiten; der nüchterne, streng logische Aristoteles erwies pgo_001.022
der Poesie die Ehre, sie in einem Werke von drei Büchern, von denen pgo_001.023
uns leider! nur eins im Auszuge erhalten ist, einer wissenschaftlichen pgo_001.024
Untersuchung zu unterziehn. Dieser Widerspruch erklärt sich nur daraus, pgo_001.025
daß die ganze Platonische Weltanschauung und besonders seine Politik pgo_001.026
mit Poesie durchdrungen und gesättigt war und daher für die Poesie keine pgo_001.027
besondere Stätte übrig blieb. Gleichwohl hat Plato über das Wesen pgo_001.028
des Schönen die tiefsten Ahnungen gehabt, sowie Aristoteles die Grundsätze

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Geschichte der Poetik.



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Die ersten Dichter folgten in naiver Weise den Eingebungen der pgo_001.004
Begeisterung; das kritische Bewußtsein, das bei jeder freien Schöpfung pgo_001.005
vorhanden, war noch unzertrennlich mit der Jnspiration verknüpft. Dem pgo_001.006
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diesem Vorbilde zugleich die in Fleisch und Blut verwandelte ästhetische pgo_001.008
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Am wenigsten war die orientalische Poesie, welche, wie jenes Riesenbild pgo_001.010
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den Berührungen des ersten Sonnenstrahls, hymnenartig bei den pgo_001.012
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hinter sich hatte, trat die Philosophie auf, um uns über das Wesen des pgo_001.017
Schönen und die Grundgesetze der einzelnen Dichtgattungen zu belehren.

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Eigenthümlich ist das Verhalten der beiden größten griechischen Denker pgo_001.019
zur Poesie. Der dichterische Plato wollte die Dichter aus seiner pgo_001.020
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Untersuchung zu unterziehn. Dieser Widerspruch erklärt sich nur daraus, pgo_001.025
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mit Poesie durchdrungen und gesättigt war und daher für die Poesie keine pgo_001.027
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. E1. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/23>, abgerufen am 18.04.2024.