Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goeze, Johann August Ephraim: Zeitvertreib und Unterricht für Kinder vom dritten bis zehnten Jahr in kleinen Geschichten. Bd. 2. Leipzig, 1783.

Bild:
<< vorherige Seite

Weiden, in alten Thürmen, Scheunen und
Gebäuden. Im Herbst und Frühjahr kom-
men sie gern in die Städte, und schreyen des
Nachts den Leuten die Ohren voll. Nun aber
frage ich dich: Kann der Vogel wohl wissen,
anzeigen und offenbaren, wenn einer sterben
soll?

Wilhelm. Nein! das kann wohl kein
Vogel. Das weiß ja nicht einmal ein Mensch
von dem andern.

Erich. Siehst du wohl? Woher sollte
das auch ein unvernünftiger Vogel wissen?
Wenn es wahr wäre, so müßte er den beson-
ders anzeigen können, der sterben sollte, und
der müßte denn auch gewiß sterben. Der
dumme Vogel weiß seinen eigenen Tod nicht
einmal. Als ich noch in meiner vorigen Kon-
dition war, da schrie mir auch einer einmal
alle Abend vor meinem Kammerfenster auf der
Scheune, daß ich nicht studiren konnte. Ich

holte
L 3

Weiden, in alten Thuͤrmen, Scheunen und
Gebaͤuden. Im Herbſt und Fruͤhjahr kom-
men ſie gern in die Staͤdte, und ſchreyen des
Nachts den Leuten die Ohren voll. Nun aber
frage ich dich: Kann der Vogel wohl wiſſen,
anzeigen und offenbaren, wenn einer ſterben
ſoll?

Wilhelm. Nein! das kann wohl kein
Vogel. Das weiß ja nicht einmal ein Menſch
von dem andern.

Erich. Siehſt du wohl? Woher ſollte
das auch ein unvernuͤnftiger Vogel wiſſen?
Wenn es wahr waͤre, ſo muͤßte er den beſon-
ders anzeigen koͤnnen, der ſterben ſollte, und
der muͤßte denn auch gewiß ſterben. Der
dumme Vogel weiß ſeinen eigenen Tod nicht
einmal. Als ich noch in meiner vorigen Kon-
dition war, da ſchrie mir auch einer einmal
alle Abend vor meinem Kammerfenſter auf der
Scheune, daß ich nicht ſtudiren konnte. Ich

holte
L 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0187" n="165"/>
Weiden, in alten Thu&#x0364;rmen, Scheunen und<lb/>
Geba&#x0364;uden. Im Herb&#x017F;t und Fru&#x0364;hjahr kom-<lb/>
men &#x017F;ie gern in die Sta&#x0364;dte, und &#x017F;chreyen des<lb/>
Nachts den Leuten die Ohren voll. Nun aber<lb/>
frage ich dich: Kann der Vogel wohl wi&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
anzeigen und offenbaren, wenn einer &#x017F;terben<lb/>
&#x017F;oll?</p><lb/>
        <p><hi rendition="#fr">Wilhelm</hi>. Nein! das kann wohl kein<lb/>
Vogel. Das weiß ja nicht einmal ein Men&#x017F;ch<lb/>
von dem andern.</p><lb/>
        <p><hi rendition="#fr">Erich</hi>. Sieh&#x017F;t du wohl? Woher &#x017F;ollte<lb/>
das auch ein unvernu&#x0364;nftiger Vogel wi&#x017F;&#x017F;en?<lb/>
Wenn es wahr wa&#x0364;re, &#x017F;o mu&#x0364;ßte er den be&#x017F;on-<lb/>
ders anzeigen ko&#x0364;nnen, der &#x017F;terben &#x017F;ollte, und<lb/>
der mu&#x0364;ßte denn auch gewiß &#x017F;terben. Der<lb/>
dumme Vogel weiß &#x017F;einen eigenen Tod nicht<lb/>
einmal. Als ich noch in meiner vorigen Kon-<lb/>
dition war, da &#x017F;chrie mir auch einer einmal<lb/>
alle Abend vor meinem Kammerfen&#x017F;ter auf der<lb/>
Scheune, daß ich nicht &#x017F;tudiren konnte. Ich<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">L 3</fw><fw place="bottom" type="catch">holte</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[165/0187] Weiden, in alten Thuͤrmen, Scheunen und Gebaͤuden. Im Herbſt und Fruͤhjahr kom- men ſie gern in die Staͤdte, und ſchreyen des Nachts den Leuten die Ohren voll. Nun aber frage ich dich: Kann der Vogel wohl wiſſen, anzeigen und offenbaren, wenn einer ſterben ſoll? Wilhelm. Nein! das kann wohl kein Vogel. Das weiß ja nicht einmal ein Menſch von dem andern. Erich. Siehſt du wohl? Woher ſollte das auch ein unvernuͤnftiger Vogel wiſſen? Wenn es wahr waͤre, ſo muͤßte er den beſon- ders anzeigen koͤnnen, der ſterben ſollte, und der muͤßte denn auch gewiß ſterben. Der dumme Vogel weiß ſeinen eigenen Tod nicht einmal. Als ich noch in meiner vorigen Kon- dition war, da ſchrie mir auch einer einmal alle Abend vor meinem Kammerfenſter auf der Scheune, daß ich nicht ſtudiren konnte. Ich holte L 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goetze_zeitvertreib02_1783
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goetze_zeitvertreib02_1783/187
Zitationshilfe: Goeze, Johann August Ephraim: Zeitvertreib und Unterricht für Kinder vom dritten bis zehnten Jahr in kleinen Geschichten. Bd. 2. Leipzig, 1783, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goetze_zeitvertreib02_1783/187>, abgerufen am 20.04.2024.