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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.

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ungemessenen Meeres gesehnt, aus dem schäumen-
den Becher des Unendlichen, jene schwellende Lebens-
wonne zu trinken, und nur einen Augenblick in
der eingeschränkten Kraft meines Busens einen
Tropfen der Seligkeit des Wesens zu sühlen, das
alles in sich und durch sich hervorbringt.

Bruder, nur die Erinnerung jener Stunden
macht mir wohl, selbst diese Anstrengung, jene un-
säglichen Gefühle zurük zu rufen, wieder auszu-
sprechen, hebt meine Seele über sich selbst, und
läßt mir dann das Bange des Zustands doppelt
empfinden, der mich jezt umgiebt.

Es hat sich vor meiner Seele wie ein Vorhang
weggezogen, und der Schauplatz des unendlichen
Lebens verwandelt sich vor mir in den Abgrund
des ewig offnen Grabs. Kannst du sagen: Das
ist! da alles vorübergeht, da alles mit der Wetter-
schnelle vorüber rollt, so selten die ganze Kraft
seines Daseyns ausdauert, ach in den Strom fort-
gerissen, untergetaucht und an Felsen zerschmettert

wird.



ungemeſſenen Meeres geſehnt, aus dem ſchaͤumen-
den Becher des Unendlichen, jene ſchwellende Lebens-
wonne zu trinken, und nur einen Augenblick in
der eingeſchraͤnkten Kraft meines Buſens einen
Tropfen der Seligkeit des Weſens zu ſuͤhlen, das
alles in ſich und durch ſich hervorbringt.

Bruder, nur die Erinnerung jener Stunden
macht mir wohl, ſelbſt dieſe Anſtrengung, jene un-
ſaͤglichen Gefuͤhle zuruͤk zu rufen, wieder auszu-
ſprechen, hebt meine Seele uͤber ſich ſelbſt, und
laͤßt mir dann das Bange des Zuſtands doppelt
empfinden, der mich jezt umgiebt.

Es hat ſich vor meiner Seele wie ein Vorhang
weggezogen, und der Schauplatz des unendlichen
Lebens verwandelt ſich vor mir in den Abgrund
des ewig offnen Grabs. Kannſt du ſagen: Das
iſt! da alles voruͤbergeht, da alles mit der Wetter-
ſchnelle voruͤber rollt, ſo ſelten die ganze Kraft
ſeines Daſeyns ausdauert, ach in den Strom fort-
geriſſen, untergetaucht und an Felſen zerſchmettert

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[94/0094] ungemeſſenen Meeres geſehnt, aus dem ſchaͤumen- den Becher des Unendlichen, jene ſchwellende Lebens- wonne zu trinken, und nur einen Augenblick in der eingeſchraͤnkten Kraft meines Buſens einen Tropfen der Seligkeit des Weſens zu ſuͤhlen, das alles in ſich und durch ſich hervorbringt. Bruder, nur die Erinnerung jener Stunden macht mir wohl, ſelbſt dieſe Anſtrengung, jene un- ſaͤglichen Gefuͤhle zuruͤk zu rufen, wieder auszu- ſprechen, hebt meine Seele uͤber ſich ſelbſt, und laͤßt mir dann das Bange des Zuſtands doppelt empfinden, der mich jezt umgiebt. Es hat ſich vor meiner Seele wie ein Vorhang weggezogen, und der Schauplatz des unendlichen Lebens verwandelt ſich vor mir in den Abgrund des ewig offnen Grabs. Kannſt du ſagen: Das iſt! da alles voruͤbergeht, da alles mit der Wetter- ſchnelle voruͤber rollt, ſo ſelten die ganze Kraft ſeines Daſeyns ausdauert, ach in den Strom fort- geriſſen, untergetaucht und an Felſen zerſchmettert wird.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/94>, abgerufen am 28.03.2024.