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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.

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re gut gegangen, und er lebte bis auf den heu-
tigen Tag!

Albert, dem die Vergleichung noch nicht an-
schaulich war, wandte noch einiges ein, und unter
andern: ich habe nur von einem einfältigen
Mädgen gesprochen, wie denn aber ein Mensch
von Verstande, der nicht so eingeschränkt sey, der
mehr Verhältnisse übersähe, zu entschuldigen seyn
möchte, könne er nicht begreifen. Mein Freund
rief ich aus, der Mensch ist Menfch, und das
Bißgen Verstand das einer haben mag, kommt we-
nig oder nicht in Anschlag, wenn Leidenschaft wü-
thet, und die Gränzen der Menschheit einen drän-
gen. Vielmehr -- ein andermal, davon sagt ich,
und grif nach meinem Hute. O mir war das
Herz so voll -- Und wir giengen auseinander, oh-
ne einander verstanden zu haben. Wie denn auf
dieser Welt keiner leicht den andern versteht.

am
F 5



re gut gegangen, und er lebte bis auf den heu-
tigen Tag!

Albert, dem die Vergleichung noch nicht an-
ſchaulich war, wandte noch einiges ein, und unter
andern: ich habe nur von einem einfaͤltigen
Maͤdgen geſprochen, wie denn aber ein Menſch
von Verſtande, der nicht ſo eingeſchraͤnkt ſey, der
mehr Verhaͤltniſſe uͤberſaͤhe, zu entſchuldigen ſeyn
moͤchte, koͤnne er nicht begreifen. Mein Freund
rief ich aus, der Menſch iſt Menfch, und das
Bißgen Verſtand das einer haben mag, kommt we-
nig oder nicht in Anſchlag, wenn Leidenſchaft wuͤ-
thet, und die Graͤnzen der Menſchheit einen draͤn-
gen. Vielmehr — ein andermal, davon ſagt ich,
und grif nach meinem Hute. O mir war das
Herz ſo voll — Und wir giengen auseinander, oh-
ne einander verſtanden zu haben. Wie denn auf
dieſer Welt keiner leicht den andern verſteht.

am
F 5
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[89/0089] re gut gegangen, und er lebte bis auf den heu- tigen Tag! Albert, dem die Vergleichung noch nicht an- ſchaulich war, wandte noch einiges ein, und unter andern: ich habe nur von einem einfaͤltigen Maͤdgen geſprochen, wie denn aber ein Menſch von Verſtande, der nicht ſo eingeſchraͤnkt ſey, der mehr Verhaͤltniſſe uͤberſaͤhe, zu entſchuldigen ſeyn moͤchte, koͤnne er nicht begreifen. Mein Freund rief ich aus, der Menſch iſt Menfch, und das Bißgen Verſtand das einer haben mag, kommt we- nig oder nicht in Anſchlag, wenn Leidenſchaft wuͤ- thet, und die Graͤnzen der Menſchheit einen draͤn- gen. Vielmehr — ein andermal, davon ſagt ich, und grif nach meinem Hute. O mir war das Herz ſo voll — Und wir giengen auseinander, oh- ne einander verſtanden zu haben. Wie denn auf dieſer Welt keiner leicht den andern verſteht. am F 5

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/89>, abgerufen am 25.04.2024.