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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.

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de Leidenschaft ihn aller ruhigen Sinneskraft be-
raubt, und ihn zu Grunde richtet.

Vergebens, daß der gelaßne vernünftige Mensch
den Zustand des Unglüklichen übersieht, vergebens,
daß er ihm zuredet, eben als wie ein Gesunder, der
am Bette des Kranken steht, ihm von seinen Kräf-
ten nicht das geringste einflößen kann.

Alberten war das zu allgemein gesprochen, ich
erinnerte ihn an ein Mädgen, das man vor weni-
ger Zeit im Wasser todt gefunden, und wiederholt
ihm ihre Geschichte. Ein gutes junges Geschöpf,
das in dem engen Kreise häuslicher Beschäftigun-
gen, wöchentlicher bestimmter Arbeit so herange-
wachsen war, das weiter keine Aussicht von Ver-
gnügen kannte, als etwa Sonntags in einem nach
und nach zusammengeschafften Puzze mit ihres glei-
chen um die Stadt spazieren zu gehen, vielleicht
alle hohe Feste einmal zu tanzen, und übrigens
mit aller Lebhaftigkeit des herzlichsten Antheils man-
che Stunde über den Anlas eines Gezänkes, einer
übeln Nachrede, mit einer Nachbarin zu verplau-
dern; deren feurige Natur fühlt nun endlich in-
nigere Bedürfnisse, die durch die Schmeicheleyen der

Män-



de Leidenſchaft ihn aller ruhigen Sinneskraft be-
raubt, und ihn zu Grunde richtet.

Vergebens, daß der gelaßne vernuͤnftige Menſch
den Zuſtand des Ungluͤklichen uͤberſieht, vergebens,
daß er ihm zuredet, eben als wie ein Geſunder, der
am Bette des Kranken ſteht, ihm von ſeinen Kraͤf-
ten nicht das geringſte einfloͤßen kann.

Alberten war das zu allgemein geſprochen, ich
erinnerte ihn an ein Maͤdgen, das man vor weni-
ger Zeit im Waſſer todt gefunden, und wiederholt
ihm ihre Geſchichte. Ein gutes junges Geſchoͤpf,
das in dem engen Kreiſe haͤuslicher Beſchaͤftigun-
gen, woͤchentlicher beſtimmter Arbeit ſo herange-
wachſen war, das weiter keine Ausſicht von Ver-
gnuͤgen kannte, als etwa Sonntags in einem nach
und nach zuſammengeſchafften Puzze mit ihres glei-
chen um die Stadt ſpazieren zu gehen, vielleicht
alle hohe Feſte einmal zu tanzen, und uͤbrigens
mit aller Lebhaftigkeit des herzlichſten Antheils man-
che Stunde uͤber den Anlas eines Gezaͤnkes, einer
uͤbeln Nachrede, mit einer Nachbarin zu verplau-
dern; deren feurige Natur fuͤhlt nun endlich in-
nigere Beduͤrfniſſe, die durch die Schmeicheleyen der

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[86/0086] de Leidenſchaft ihn aller ruhigen Sinneskraft be- raubt, und ihn zu Grunde richtet. Vergebens, daß der gelaßne vernuͤnftige Menſch den Zuſtand des Ungluͤklichen uͤberſieht, vergebens, daß er ihm zuredet, eben als wie ein Geſunder, der am Bette des Kranken ſteht, ihm von ſeinen Kraͤf- ten nicht das geringſte einfloͤßen kann. Alberten war das zu allgemein geſprochen, ich erinnerte ihn an ein Maͤdgen, das man vor weni- ger Zeit im Waſſer todt gefunden, und wiederholt ihm ihre Geſchichte. Ein gutes junges Geſchoͤpf, das in dem engen Kreiſe haͤuslicher Beſchaͤftigun- gen, woͤchentlicher beſtimmter Arbeit ſo herange- wachſen war, das weiter keine Ausſicht von Ver- gnuͤgen kannte, als etwa Sonntags in einem nach und nach zuſammengeſchafften Puzze mit ihres glei- chen um die Stadt ſpazieren zu gehen, vielleicht alle hohe Feſte einmal zu tanzen, und uͤbrigens mit aller Lebhaftigkeit des herzlichſten Antheils man- che Stunde uͤber den Anlas eines Gezaͤnkes, einer uͤbeln Nachrede, mit einer Nachbarin zu verplau- dern; deren feurige Natur fuͤhlt nun endlich in- nigere Beduͤrfniſſe, die durch die Schmeicheleyen der Maͤn-

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/86>, abgerufen am 25.04.2024.