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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.

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Daß ihr Menschen, rief ich aus, um von einer
Sache zu reden, gleich sprechen müßt: Das ist
thörig, das ist klug, das ist gut, das ist bös! Und
was will das all heissen? Habt ihr deßwegen die
innern Verhältnisse einer Handlung erforscht?
Wißt ihr mit Bestimmtheit die Ursachen zu ent-
wikkeln, warum sie geschah, warum sie geschehen
mußte? Hättet ihr das, ihr würdet nicht so eil-
fertig mit euren Urtheilen seyn.

Du wirst mir zugeben, sagte Albert, daß
gewisse Handlungen lasterhaft bleiben, sie mögen
aus einem Beweggrunde geschehen, aus welchem
sie wollen.

Jch zukte die Achseln und gabs ihm zu.
Doch, mein Lieber, fuhr ich fort, finden sich auch
hier einige Ausnahmen. Es ist wahr, der Dieb-
stahl ist ein Laster, aber der Mensch, der, um sich
und die Seinigen vom schmäligen Hungertode zu
erretten, auf Raub ausgeht, verdient der Mitlei-
den oder Strafe? Wer hebt den ersten Stein
auf gegen den Ehemann, der im gerechten Zorne
sein untreues Weib und ihren nichtswürdigen Ver-
führer aufopfert? Gegen das Mädgen, das in ei-

ner
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Daß ihr Menſchen, rief ich aus, um von einer
Sache zu reden, gleich ſprechen muͤßt: Das iſt
thoͤrig, das iſt klug, das iſt gut, das iſt boͤs! Und
was will das all heiſſen? Habt ihr deßwegen die
innern Verhaͤltniſſe einer Handlung erforſcht?
Wißt ihr mit Beſtimmtheit die Urſachen zu ent-
wikkeln, warum ſie geſchah, warum ſie geſchehen
mußte? Haͤttet ihr das, ihr wuͤrdet nicht ſo eil-
fertig mit euren Urtheilen ſeyn.

Du wirſt mir zugeben, ſagte Albert, daß
gewiſſe Handlungen laſterhaft bleiben, ſie moͤgen
aus einem Beweggrunde geſchehen, aus welchem
ſie wollen.

Jch zukte die Achſeln und gabs ihm zu.
Doch, mein Lieber, fuhr ich fort, finden ſich auch
hier einige Ausnahmen. Es iſt wahr, der Dieb-
ſtahl iſt ein Laſter, aber der Menſch, der, um ſich
und die Seinigen vom ſchmaͤligen Hungertode zu
erretten, auf Raub ausgeht, verdient der Mitlei-
den oder Strafe? Wer hebt den erſten Stein
auf gegen den Ehemann, der im gerechten Zorne
ſein untreues Weib und ihren nichtswuͤrdigen Ver-
fuͤhrer aufopfert? Gegen das Maͤdgen, das in ei-

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[81/0081] Daß ihr Menſchen, rief ich aus, um von einer Sache zu reden, gleich ſprechen muͤßt: Das iſt thoͤrig, das iſt klug, das iſt gut, das iſt boͤs! Und was will das all heiſſen? Habt ihr deßwegen die innern Verhaͤltniſſe einer Handlung erforſcht? Wißt ihr mit Beſtimmtheit die Urſachen zu ent- wikkeln, warum ſie geſchah, warum ſie geſchehen mußte? Haͤttet ihr das, ihr wuͤrdet nicht ſo eil- fertig mit euren Urtheilen ſeyn. Du wirſt mir zugeben, ſagte Albert, daß gewiſſe Handlungen laſterhaft bleiben, ſie moͤgen aus einem Beweggrunde geſchehen, aus welchem ſie wollen. Jch zukte die Achſeln und gabs ihm zu. Doch, mein Lieber, fuhr ich fort, finden ſich auch hier einige Ausnahmen. Es iſt wahr, der Dieb- ſtahl iſt ein Laſter, aber der Menſch, der, um ſich und die Seinigen vom ſchmaͤligen Hungertode zu erretten, auf Raub ausgeht, verdient der Mitlei- den oder Strafe? Wer hebt den erſten Stein auf gegen den Ehemann, der im gerechten Zorne ſein untreues Weib und ihren nichtswuͤrdigen Ver- fuͤhrer aufopfert? Gegen das Maͤdgen, das in ei- ner F

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/81>, abgerufen am 23.04.2024.