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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.

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Doch hat sich die Frau immer durchzuhelfen ge-
wußt. Vor wenig Tagen, als der Doktor ihr das
Leben abgesprochen hatte, ließ sie ihren Mann
kommen, Lotte war im Zimmer, und redte ihn
also an: Jch muß dir eine Sache gestehn, die
nach meinem Tode Verwirrung und Verdruß ma-
chen könnte. Jch habe bisher die Haushaltung
geführt, so ordentlich und sparsam als möglich, al-
lein du wirst mir verzeihen, daß ich dich diese
dreyßig Jahre her hintergangen habe. Du be-
stimmtest im Anfange unserer Heyrath ein gerin-
ges für die Bestreitung der Küche und anderer
häuslichen Ausgaben. Als unsere Haushaltung
stärker wurde, unser Gewerb grösser, warst du
nicht zu bewegen, mein Wochengeld nach dem Ver-
hältnisse zu vermehren, kurz du weißt, daß du in
den Zeiten, da sie am grösten war, verlangtest, ich
solle mit sieben Gulden die Woche auskommen.
Die hab ich denn ohne Widerrede genommen und
mir den Ueberschuß wöchentlich aus der Loosung
geholt, da niemand vermuthete, daß die Frau die
Casse bestehlen würde. Jch habe nichts verschwen-
det, und wäre auch, ohne es zu bekennen, getrost

der



Doch hat ſich die Frau immer durchzuhelfen ge-
wußt. Vor wenig Tagen, als der Doktor ihr das
Leben abgeſprochen hatte, ließ ſie ihren Mann
kommen, Lotte war im Zimmer, und redte ihn
alſo an: Jch muß dir eine Sache geſtehn, die
nach meinem Tode Verwirrung und Verdruß ma-
chen koͤnnte. Jch habe bisher die Haushaltung
gefuͤhrt, ſo ordentlich und ſparſam als moͤglich, al-
lein du wirſt mir verzeihen, daß ich dich dieſe
dreyßig Jahre her hintergangen habe. Du be-
ſtimmteſt im Anfange unſerer Heyrath ein gerin-
ges fuͤr die Beſtreitung der Kuͤche und anderer
haͤuslichen Ausgaben. Als unſere Haushaltung
ſtaͤrker wurde, unſer Gewerb groͤſſer, warſt du
nicht zu bewegen, mein Wochengeld nach dem Ver-
haͤltniſſe zu vermehren, kurz du weißt, daß du in
den Zeiten, da ſie am groͤſten war, verlangteſt, ich
ſolle mit ſieben Gulden die Woche auskommen.
Die hab ich denn ohne Widerrede genommen und
mir den Ueberſchuß woͤchentlich aus der Looſung
geholt, da niemand vermuthete, daß die Frau die
Caſſe beſtehlen wuͤrde. Jch habe nichts verſchwen-
det, und waͤre auch, ohne es zu bekennen, getroſt

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[64/0064] Doch hat ſich die Frau immer durchzuhelfen ge- wußt. Vor wenig Tagen, als der Doktor ihr das Leben abgeſprochen hatte, ließ ſie ihren Mann kommen, Lotte war im Zimmer, und redte ihn alſo an: Jch muß dir eine Sache geſtehn, die nach meinem Tode Verwirrung und Verdruß ma- chen koͤnnte. Jch habe bisher die Haushaltung gefuͤhrt, ſo ordentlich und ſparſam als moͤglich, al- lein du wirſt mir verzeihen, daß ich dich dieſe dreyßig Jahre her hintergangen habe. Du be- ſtimmteſt im Anfange unſerer Heyrath ein gerin- ges fuͤr die Beſtreitung der Kuͤche und anderer haͤuslichen Ausgaben. Als unſere Haushaltung ſtaͤrker wurde, unſer Gewerb groͤſſer, warſt du nicht zu bewegen, mein Wochengeld nach dem Ver- haͤltniſſe zu vermehren, kurz du weißt, daß du in den Zeiten, da ſie am groͤſten war, verlangteſt, ich ſolle mit ſieben Gulden die Woche auskommen. Die hab ich denn ohne Widerrede genommen und mir den Ueberſchuß woͤchentlich aus der Looſung geholt, da niemand vermuthete, daß die Frau die Caſſe beſtehlen wuͤrde. Jch habe nichts verſchwen- det, und waͤre auch, ohne es zu bekennen, getroſt der

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/64>, abgerufen am 20.04.2024.