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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.

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Wer sich das nur täglich sagte, rief ich aus:
du vermagst nichts auf deine Freunde, als ihnen
ihre Freude zu lassen und ihr Glük zu vermeh-
ren, indem du es mit ihnen geniessest. Vermagst
du, wenn ihre innre Seele von einer ängstigen-
den Leidenschaft gequält, vom Kummer zerrüttet
ist, ihnen einen Tropfen Linderung zu geben?

Und wenn die lezte bangste Krankheit dann
über das Geschöpf herfällt, das du in blühenden
Tagen untergraben hast, und sie nun da liegt in
dem erbärmlichen Ermatten, und das Aug gefühl-
los gen Himmel sieht, und der Todesschweis auf
ihrer Stirne abwechselt, und du vor dem Bette
stehst wie ein Verdammter, in dem innigsten Ge-
fühl, daß du nichts vermagst mit all deinem Ver-
mögen, und die Angst dich inwendig krampft, daß
du alles hingeben möchtest, um dem untergehenden
Geschöpf einen Tropfen Stärkung, einen Funken
Muth einflösen zu können.

Die Erinnerung einer solchen Scene, da ich
gegenwärtig war, fiel mit ganzer Gewalt bey die-
sen Worten über mich. Jch nahm das Schnupf-
tuch vor die Augen, und verlies die Gesellschaft,

und


Wer ſich das nur taͤglich ſagte, rief ich aus:
du vermagſt nichts auf deine Freunde, als ihnen
ihre Freude zu laſſen und ihr Gluͤk zu vermeh-
ren, indem du es mit ihnen genieſſeſt. Vermagſt
du, wenn ihre innre Seele von einer aͤngſtigen-
den Leidenſchaft gequaͤlt, vom Kummer zerruͤttet
iſt, ihnen einen Tropfen Linderung zu geben?

Und wenn die lezte bangſte Krankheit dann
uͤber das Geſchoͤpf herfaͤllt, das du in bluͤhenden
Tagen untergraben haſt, und ſie nun da liegt in
dem erbaͤrmlichen Ermatten, und das Aug gefuͤhl-
los gen Himmel ſieht, und der Todesſchweis auf
ihrer Stirne abwechſelt, und du vor dem Bette
ſtehſt wie ein Verdammter, in dem innigſten Ge-
fuͤhl, daß du nichts vermagſt mit all deinem Ver-
moͤgen, und die Angſt dich inwendig krampft, daß
du alles hingeben moͤchteſt, um dem untergehenden
Geſchoͤpf einen Tropfen Staͤrkung, einen Funken
Muth einfloͤſen zu koͤnnen.

Die Erinnerung einer ſolchen Scene, da ich
gegenwaͤrtig war, fiel mit ganzer Gewalt bey die-
ſen Worten uͤber mich. Jch nahm das Schnupf-
tuch vor die Augen, und verlies die Geſellſchaft,

und
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[58/0058] Wer ſich das nur taͤglich ſagte, rief ich aus: du vermagſt nichts auf deine Freunde, als ihnen ihre Freude zu laſſen und ihr Gluͤk zu vermeh- ren, indem du es mit ihnen genieſſeſt. Vermagſt du, wenn ihre innre Seele von einer aͤngſtigen- den Leidenſchaft gequaͤlt, vom Kummer zerruͤttet iſt, ihnen einen Tropfen Linderung zu geben? Und wenn die lezte bangſte Krankheit dann uͤber das Geſchoͤpf herfaͤllt, das du in bluͤhenden Tagen untergraben haſt, und ſie nun da liegt in dem erbaͤrmlichen Ermatten, und das Aug gefuͤhl- los gen Himmel ſieht, und der Todesſchweis auf ihrer Stirne abwechſelt, und du vor dem Bette ſtehſt wie ein Verdammter, in dem innigſten Ge- fuͤhl, daß du nichts vermagſt mit all deinem Ver- moͤgen, und die Angſt dich inwendig krampft, daß du alles hingeben moͤchteſt, um dem untergehenden Geſchoͤpf einen Tropfen Staͤrkung, einen Funken Muth einfloͤſen zu koͤnnen. Die Erinnerung einer ſolchen Scene, da ich gegenwaͤrtig war, fiel mit ganzer Gewalt bey die- ſen Worten uͤber mich. Jch nahm das Schnupf- tuch vor die Augen, und verlies die Geſellſchaft, und

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/58>, abgerufen am 29.03.2024.