Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.

Bild:
<< vorherige Seite



den Pfarrer von St. .. zu besuchen, ein Oertgen, das
eine Stunde seitwärts im Gebürge liegt. Wir
kamen gegen viere dahin. Lotte hatte ihre zwey-
te Schwester mitgenommen. Als wir in den, von
zwey hohen Nußbäumen überschatteten, Pfarrhof
traten, saß der gute alte Mann auf einer Bank
vor der Hausthüre, und da er Lotten sah, ward
er wie neubelebt, vergaß seinen Knotenstok, und
wagte sich auf ihr entgegen. Sie lief hin zu ihm,
nöthigte ihn sich niederzusezzen, indem sie sich zu
ihm sezte, brachte viel Grüsse von ihrem Vater,
herzte seinen garstigen schmuzigen jüngsten Buben,
das Quakelgen seines Alters. Du hättest sie sehen
sollen, wie sie den Alten beschäftigte, wie sie ihre
Stimme erhub um seinen halb tauben Ohren
vernehmlich zu werden, wie sie ihm erzählte von
jungen robusten Leuten, die unvermuthet gestorben
wären, von der Vortreflichkeit des Carlsbades, und
wie sie seinen Entschluß lobte, künftigen Sommer
hinzugehen, und wie sie fand, daß er viel besser
aussähe, viel munterer sey als das leztemal, da
sie ihn gesehn. Jch hatte indeß der Frau Pfar-
rern meine Höflichkeiten gemacht, der Alte wurde

ganz
D 2



den Pfarrer von St. .. zu beſuchen, ein Oertgen, das
eine Stunde ſeitwaͤrts im Gebuͤrge liegt. Wir
kamen gegen viere dahin. Lotte hatte ihre zwey-
te Schweſter mitgenommen. Als wir in den, von
zwey hohen Nußbaͤumen uͤberſchatteten, Pfarrhof
traten, ſaß der gute alte Mann auf einer Bank
vor der Hausthuͤre, und da er Lotten ſah, ward
er wie neubelebt, vergaß ſeinen Knotenſtok, und
wagte ſich auf ihr entgegen. Sie lief hin zu ihm,
noͤthigte ihn ſich niederzuſezzen, indem ſie ſich zu
ihm ſezte, brachte viel Gruͤſſe von ihrem Vater,
herzte ſeinen garſtigen ſchmuzigen juͤngſten Buben,
das Quakelgen ſeines Alters. Du haͤtteſt ſie ſehen
ſollen, wie ſie den Alten beſchaͤftigte, wie ſie ihre
Stimme erhub um ſeinen halb tauben Ohren
vernehmlich zu werden, wie ſie ihm erzaͤhlte von
jungen robuſten Leuten, die unvermuthet geſtorben
waͤren, von der Vortreflichkeit des Carlsbades, und
wie ſie ſeinen Entſchluß lobte, kuͤnftigen Sommer
hinzugehen, und wie ſie fand, daß er viel beſſer
ausſaͤhe, viel munterer ſey als das leztemal, da
ſie ihn geſehn. Jch hatte indeß der Frau Pfar-
rern meine Hoͤflichkeiten gemacht, der Alte wurde

ganz
D 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="diaryEntry">
        <p><pb facs="#f0051" n="51"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
den Pfarrer von St. .. zu be&#x017F;uchen, ein Oertgen, das<lb/>
eine Stunde &#x017F;eitwa&#x0364;rts im Gebu&#x0364;rge liegt. Wir<lb/>
kamen gegen viere dahin. Lotte hatte ihre zwey-<lb/>
te Schwe&#x017F;ter mitgenommen. Als wir in den, von<lb/>
zwey hohen Nußba&#x0364;umen u&#x0364;ber&#x017F;chatteten, Pfarrhof<lb/>
traten, &#x017F;aß der gute alte Mann auf einer Bank<lb/>
vor der Hausthu&#x0364;re, und da er Lotten &#x017F;ah, ward<lb/>
er wie neubelebt, vergaß &#x017F;einen Knoten&#x017F;tok, und<lb/>
wagte &#x017F;ich auf ihr entgegen. Sie lief hin zu ihm,<lb/>
no&#x0364;thigte ihn &#x017F;ich niederzu&#x017F;ezzen, indem &#x017F;ie &#x017F;ich zu<lb/>
ihm &#x017F;ezte, brachte viel Gru&#x0364;&#x017F;&#x017F;e von ihrem Vater,<lb/>
herzte &#x017F;einen gar&#x017F;tigen &#x017F;chmuzigen ju&#x0364;ng&#x017F;ten Buben,<lb/>
das Quakelgen &#x017F;eines Alters. Du ha&#x0364;tte&#x017F;t &#x017F;ie &#x017F;ehen<lb/>
&#x017F;ollen, wie &#x017F;ie den Alten be&#x017F;cha&#x0364;ftigte, wie &#x017F;ie ihre<lb/>
Stimme erhub um &#x017F;einen halb tauben Ohren<lb/>
vernehmlich zu werden, wie &#x017F;ie ihm erza&#x0364;hlte von<lb/>
jungen robu&#x017F;ten Leuten, die unvermuthet ge&#x017F;torben<lb/>
wa&#x0364;ren, von der Vortreflichkeit des Carlsbades, und<lb/>
wie &#x017F;ie &#x017F;einen Ent&#x017F;chluß lobte, ku&#x0364;nftigen Sommer<lb/>
hinzugehen, und wie &#x017F;ie fand, daß er viel be&#x017F;&#x017F;er<lb/>
aus&#x017F;a&#x0364;he, viel munterer &#x017F;ey als das leztemal, da<lb/>
&#x017F;ie ihn ge&#x017F;ehn. Jch hatte indeß der Frau Pfar-<lb/>
rern meine Ho&#x0364;flichkeiten gemacht, der Alte wurde<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">D 2</fw><fw place="bottom" type="catch">ganz</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[51/0051] den Pfarrer von St. .. zu beſuchen, ein Oertgen, das eine Stunde ſeitwaͤrts im Gebuͤrge liegt. Wir kamen gegen viere dahin. Lotte hatte ihre zwey- te Schweſter mitgenommen. Als wir in den, von zwey hohen Nußbaͤumen uͤberſchatteten, Pfarrhof traten, ſaß der gute alte Mann auf einer Bank vor der Hausthuͤre, und da er Lotten ſah, ward er wie neubelebt, vergaß ſeinen Knotenſtok, und wagte ſich auf ihr entgegen. Sie lief hin zu ihm, noͤthigte ihn ſich niederzuſezzen, indem ſie ſich zu ihm ſezte, brachte viel Gruͤſſe von ihrem Vater, herzte ſeinen garſtigen ſchmuzigen juͤngſten Buben, das Quakelgen ſeines Alters. Du haͤtteſt ſie ſehen ſollen, wie ſie den Alten beſchaͤftigte, wie ſie ihre Stimme erhub um ſeinen halb tauben Ohren vernehmlich zu werden, wie ſie ihm erzaͤhlte von jungen robuſten Leuten, die unvermuthet geſtorben waͤren, von der Vortreflichkeit des Carlsbades, und wie ſie ſeinen Entſchluß lobte, kuͤnftigen Sommer hinzugehen, und wie ſie fand, daß er viel beſſer ausſaͤhe, viel munterer ſey als das leztemal, da ſie ihn geſehn. Jch hatte indeß der Frau Pfar- rern meine Hoͤflichkeiten gemacht, der Alte wurde ganz D 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/51
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/51>, abgerufen am 20.04.2024.