Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.

Bild:
<< vorherige Seite



Dratpuppe ist, und im Diskurs seine Manschet-
ten in Falten legt, und den Kräusel bis zum Na-
bel herauszupft, fand dieses unter der Würde eines
gescheuten Menschen, das merkte ich an seiner Na-
se. Jch lies mich aber in nichts stören, lies
ihn sehr vernünftige Sachen abhandeln, und baute
den Kindern ihre Kartenhäuser wieder, die sie zer-
schlagen hatten. Auch gieng er darauf in der
Stadt herum und beklagte: des Amtmanns Kin-
der wären schon ungezogen genug, der Werther
verdürbe sie nun völlig.

Ja, lieber Wilhelm, meinem Herzen sind die
Kinder am nächsten auf der Erde. Wenn ich so
zusehe und in dem kleinen Dinge die Keime aller
Tugenden, aller Kräfte sehe, die sie einmal so nö-
thig brauchen werden, wenn ich in dem Eigensinne,
alle die künftige Standhaftigkeit und Festigkeit des
Charakters, in dem Muthwillen, allen künftigen gu-
ten Humor und die Leichtigkeit, über alle die Ge-
fahren der Welt hinzuschlüpfen, erblikke, alles so un
verdorben, so ganz! Jmmer, immer wiederhol ich
die goldnen Worte des Lehrers der Menschen:
wenn ihr nicht werdet wie eines von diesen! Und

nun,
D



Dratpuppe iſt, und im Diskurs ſeine Manſchet-
ten in Falten legt, und den Kraͤuſel bis zum Na-
bel herauszupft, fand dieſes unter der Wuͤrde eines
geſcheuten Menſchen, das merkte ich an ſeiner Na-
ſe. Jch lies mich aber in nichts ſtoͤren, lies
ihn ſehr vernuͤnftige Sachen abhandeln, und baute
den Kindern ihre Kartenhaͤuſer wieder, die ſie zer-
ſchlagen hatten. Auch gieng er darauf in der
Stadt herum und beklagte: des Amtmanns Kin-
der waͤren ſchon ungezogen genug, der Werther
verduͤrbe ſie nun voͤllig.

Ja, lieber Wilhelm, meinem Herzen ſind die
Kinder am naͤchſten auf der Erde. Wenn ich ſo
zuſehe und in dem kleinen Dinge die Keime aller
Tugenden, aller Kraͤfte ſehe, die ſie einmal ſo noͤ-
thig brauchen werden, wenn ich in dem Eigenſinne,
alle die kuͤnftige Standhaftigkeit und Feſtigkeit des
Charakters, in dem Muthwillen, allen kuͤnftigen gu-
ten Humor und die Leichtigkeit, uͤber alle die Ge-
fahren der Welt hinzuſchluͤpfen, erblikke, alles ſo un
verdorben, ſo ganz! Jmmer, immer wiederhol ich
die goldnen Worte des Lehrers der Menſchen:
wenn ihr nicht werdet wie eines von dieſen! Und

nun,
D
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="diaryEntry">
        <p><pb facs="#f0049" n="49"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
Dratpuppe i&#x017F;t, und im Diskurs &#x017F;eine Man&#x017F;chet-<lb/>
ten in Falten legt, und den Kra&#x0364;u&#x017F;el bis zum Na-<lb/>
bel herauszupft, fand die&#x017F;es unter der Wu&#x0364;rde eines<lb/>
ge&#x017F;cheuten Men&#x017F;chen, das merkte ich an &#x017F;einer Na-<lb/>
&#x017F;e. Jch lies mich aber in nichts &#x017F;to&#x0364;ren, lies<lb/>
ihn &#x017F;ehr vernu&#x0364;nftige Sachen abhandeln, und baute<lb/>
den Kindern ihre Kartenha&#x0364;u&#x017F;er wieder, die &#x017F;ie zer-<lb/>
&#x017F;chlagen hatten. Auch gieng er darauf in der<lb/>
Stadt herum und beklagte: des Amtmanns Kin-<lb/>
der wa&#x0364;ren &#x017F;chon ungezogen genug, der Werther<lb/>
verdu&#x0364;rbe &#x017F;ie nun vo&#x0364;llig.</p><lb/>
        <p>Ja, lieber Wilhelm, meinem Herzen &#x017F;ind die<lb/>
Kinder am na&#x0364;ch&#x017F;ten auf der Erde. Wenn ich &#x017F;o<lb/>
zu&#x017F;ehe und in dem kleinen Dinge die Keime aller<lb/>
Tugenden, aller Kra&#x0364;fte &#x017F;ehe, die &#x017F;ie einmal &#x017F;o no&#x0364;-<lb/>
thig brauchen werden, wenn ich in dem Eigen&#x017F;inne,<lb/>
alle die ku&#x0364;nftige Standhaftigkeit und Fe&#x017F;tigkeit des<lb/>
Charakters, in dem Muthwillen, allen ku&#x0364;nftigen gu-<lb/>
ten Humor und die Leichtigkeit, u&#x0364;ber alle die Ge-<lb/>
fahren der Welt hinzu&#x017F;chlu&#x0364;pfen, erblikke, alles &#x017F;o un<lb/>
verdorben, &#x017F;o ganz! Jmmer, immer wiederhol ich<lb/>
die goldnen Worte des Lehrers der Men&#x017F;chen:<lb/>
wenn ihr nicht werdet wie eines von die&#x017F;en! Und<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">D</fw><fw place="bottom" type="catch">nun,</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[49/0049] Dratpuppe iſt, und im Diskurs ſeine Manſchet- ten in Falten legt, und den Kraͤuſel bis zum Na- bel herauszupft, fand dieſes unter der Wuͤrde eines geſcheuten Menſchen, das merkte ich an ſeiner Na- ſe. Jch lies mich aber in nichts ſtoͤren, lies ihn ſehr vernuͤnftige Sachen abhandeln, und baute den Kindern ihre Kartenhaͤuſer wieder, die ſie zer- ſchlagen hatten. Auch gieng er darauf in der Stadt herum und beklagte: des Amtmanns Kin- der waͤren ſchon ungezogen genug, der Werther verduͤrbe ſie nun voͤllig. Ja, lieber Wilhelm, meinem Herzen ſind die Kinder am naͤchſten auf der Erde. Wenn ich ſo zuſehe und in dem kleinen Dinge die Keime aller Tugenden, aller Kraͤfte ſehe, die ſie einmal ſo noͤ- thig brauchen werden, wenn ich in dem Eigenſinne, alle die kuͤnftige Standhaftigkeit und Feſtigkeit des Charakters, in dem Muthwillen, allen kuͤnftigen gu- ten Humor und die Leichtigkeit, uͤber alle die Ge- fahren der Welt hinzuſchluͤpfen, erblikke, alles ſo un verdorben, ſo ganz! Jmmer, immer wiederhol ich die goldnen Worte des Lehrers der Menſchen: wenn ihr nicht werdet wie eines von dieſen! Und nun, D

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/49
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/49>, abgerufen am 28.03.2024.