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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.

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Fremden und die Kutsche zu sehen, darinnen ihre
Lotte wegfahren sollte. Jch bitte um Vegebung,
sagte sie, daß ich Sie herein bemühe, und die Frauen-
zimmer warten lasse. Ueber dem Anziehen und
allerley Bestellungen für's Haus in meiner Ab-
wesenheit, habe ich vergessen meinen Kindern ihr
Vesperstük zu geben, und sie wollen von nieman-
den Brod geschnitten haben als von mir. Jch
machte ihr ein unbedeutendes Compliment, und
meine ganze Seele ruhte auf der Gestalt, dem
Tone, dem Betragen, und hatte eben Zeit, mich
von der Ueberraschung zu erholen, als sie in die
Stube lief ihre Handschuh und Fächer zu nehmen.
Die Kleinen sahen mich in einiger Entfernung so
von der Seite an, und ich gieng auf das jüngste
los, das ein Kind von der glüklichsten Gesichts-
bildung war. Es zog sich zurük, als eben Lotte
zur Thüre herauskam, und sagte: Louis, gieb dem
Herrn Vetter eine Hand. Das that der Knabe
sehr freymüthig, und ich konnte mich nicht ent-
halten, ihn ohngeachtet seines kleinen Roznäs-
chens herzlich zu küssen. Vetter, sagt' ich, in-
dem ich ihr die Hand reichte, glauben Sie, daß

ich



Fremden und die Kutſche zu ſehen, darinnen ihre
Lotte wegfahren ſollte. Jch bitte um Vegebung,
ſagte ſie, daß ich Sie herein bemuͤhe, und die Frauen-
zimmer warten laſſe. Ueber dem Anziehen und
allerley Beſtellungen fuͤr’s Haus in meiner Ab-
weſenheit, habe ich vergeſſen meinen Kindern ihr
Veſperſtuͤk zu geben, und ſie wollen von nieman-
den Brod geſchnitten haben als von mir. Jch
machte ihr ein unbedeutendes Compliment, und
meine ganze Seele ruhte auf der Geſtalt, dem
Tone, dem Betragen, und hatte eben Zeit, mich
von der Ueberraſchung zu erholen, als ſie in die
Stube lief ihre Handſchuh und Faͤcher zu nehmen.
Die Kleinen ſahen mich in einiger Entfernung ſo
von der Seite an, und ich gieng auf das juͤngſte
los, das ein Kind von der gluͤklichſten Geſichts-
bildung war. Es zog ſich zuruͤk, als eben Lotte
zur Thuͤre herauskam, und ſagte: Louis, gieb dem
Herrn Vetter eine Hand. Das that der Knabe
ſehr freymuͤthig, und ich konnte mich nicht ent-
halten, ihn ohngeachtet ſeines kleinen Roznaͤs-
chens herzlich zu kuͤſſen. Vetter, ſagt’ ich, in-
dem ich ihr die Hand reichte, glauben Sie, daß

ich
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[31/0031] Fremden und die Kutſche zu ſehen, darinnen ihre Lotte wegfahren ſollte. Jch bitte um Vegebung, ſagte ſie, daß ich Sie herein bemuͤhe, und die Frauen- zimmer warten laſſe. Ueber dem Anziehen und allerley Beſtellungen fuͤr’s Haus in meiner Ab- weſenheit, habe ich vergeſſen meinen Kindern ihr Veſperſtuͤk zu geben, und ſie wollen von nieman- den Brod geſchnitten haben als von mir. Jch machte ihr ein unbedeutendes Compliment, und meine ganze Seele ruhte auf der Geſtalt, dem Tone, dem Betragen, und hatte eben Zeit, mich von der Ueberraſchung zu erholen, als ſie in die Stube lief ihre Handſchuh und Faͤcher zu nehmen. Die Kleinen ſahen mich in einiger Entfernung ſo von der Seite an, und ich gieng auf das juͤngſte los, das ein Kind von der gluͤklichſten Geſichts- bildung war. Es zog ſich zuruͤk, als eben Lotte zur Thuͤre herauskam, und ſagte: Louis, gieb dem Herrn Vetter eine Hand. Das that der Knabe ſehr freymuͤthig, und ich konnte mich nicht ent- halten, ihn ohngeachtet ſeines kleinen Roznaͤs- chens herzlich zu kuͤſſen. Vetter, ſagt’ ich, in- dem ich ihr die Hand reichte, glauben Sie, daß ich

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/31>, abgerufen am 18.04.2024.