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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.

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dünkt sich nicht eben weise, aber glaubt doch, er
wüßte mehr als andere. Auch war er fleißig, wie
ich an allerley spüre, kurz er hatt' hüpsche Kennt-
nisse. Da er hörte, daß ich viel zeichnete, und
Griechisch konnte, zwey Meteore hier zu Land,
wandt er sich an mich und kramte viel Wissens
aus, von Batteux bis zu Wood, von de Piles zu
Winkelmann, und versicherte mich, er habe Sulzers
Theorie den ersten Theil ganz durchgelesen, und be-
sitze ein Manuscript von Heynen über das Stu-
dium der Antike. Jch ließ das gut seyn.

Noch gar einen braven Kerl hab ich kennen ler-
nen, den fürstlichen Amtmann. Einen offenen,
treuherzigen Menschen. Man sagt, es soll eine
Seelenfreude seyn, ihn unter seinen Kindern zu se-
hen, deren er neune hat. Besonders macht man
viel Wesens von seiner ältsten Tochter. Er hat
mich zu sich gebeten, und ich will ihn ehster Tage
besuchen, er wohnt auf einem fürstlichen Jagdhofe,
anderthalb Stunden von hier, wohin er, nach dem
Tode seiner Frau, zu ziehen die Erlaubniß erhielt,
da ihm der Aufenthalt hier in der Stadt und dem
Amthause zu weh that.

Sonst



duͤnkt ſich nicht eben weiſe, aber glaubt doch, er
wuͤßte mehr als andere. Auch war er fleißig, wie
ich an allerley ſpuͤre, kurz er hatt’ huͤpſche Kennt-
niſſe. Da er hoͤrte, daß ich viel zeichnete, und
Griechiſch konnte, zwey Meteore hier zu Land,
wandt er ſich an mich und kramte viel Wiſſens
aus, von Batteux bis zu Wood, von de Piles zu
Winkelmann, und verſicherte mich, er habe Sulzers
Theorie den erſten Theil ganz durchgeleſen, und be-
ſitze ein Manuſcript von Heynen uͤber das Stu-
dium der Antike. Jch ließ das gut ſeyn.

Noch gar einen braven Kerl hab ich kennen ler-
nen, den fuͤrſtlichen Amtmann. Einen offenen,
treuherzigen Menſchen. Man ſagt, es ſoll eine
Seelenfreude ſeyn, ihn unter ſeinen Kindern zu ſe-
hen, deren er neune hat. Beſonders macht man
viel Weſens von ſeiner aͤltſten Tochter. Er hat
mich zu ſich gebeten, und ich will ihn ehſter Tage
beſuchen, er wohnt auf einem fuͤrſtlichen Jagdhofe,
anderthalb Stunden von hier, wohin er, nach dem
Tode ſeiner Frau, zu ziehen die Erlaubniß erhielt,
da ihm der Aufenthalt hier in der Stadt und dem
Amthauſe zu weh that.

Sonſt
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[16/0016] duͤnkt ſich nicht eben weiſe, aber glaubt doch, er wuͤßte mehr als andere. Auch war er fleißig, wie ich an allerley ſpuͤre, kurz er hatt’ huͤpſche Kennt- niſſe. Da er hoͤrte, daß ich viel zeichnete, und Griechiſch konnte, zwey Meteore hier zu Land, wandt er ſich an mich und kramte viel Wiſſens aus, von Batteux bis zu Wood, von de Piles zu Winkelmann, und verſicherte mich, er habe Sulzers Theorie den erſten Theil ganz durchgeleſen, und be- ſitze ein Manuſcript von Heynen uͤber das Stu- dium der Antike. Jch ließ das gut ſeyn. Noch gar einen braven Kerl hab ich kennen ler- nen, den fuͤrſtlichen Amtmann. Einen offenen, treuherzigen Menſchen. Man ſagt, es ſoll eine Seelenfreude ſeyn, ihn unter ſeinen Kindern zu ſe- hen, deren er neune hat. Beſonders macht man viel Weſens von ſeiner aͤltſten Tochter. Er hat mich zu ſich gebeten, und ich will ihn ehſter Tage beſuchen, er wohnt auf einem fuͤrſtlichen Jagdhofe, anderthalb Stunden von hier, wohin er, nach dem Tode ſeiner Frau, zu ziehen die Erlaubniß erhielt, da ihm der Aufenthalt hier in der Stadt und dem Amthauſe zu weh that. Sonſt

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/16>, abgerufen am 18.04.2024.