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[Görres, Joseph:] [Rezension zu:] Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder gesammelt von L. A. v. Arnim u. C. Brentano. In: Heidelbergische Jahrbücher der Literatur, Fünfte Abtheilung. Philologie, Historie, schöne Literatur und Kunst, Jg. 2 (1809), Bd. 1, Heft 5, S. 222‒237 und Jg. 3 (1810), Bd. 2, Heft 9, S. 30‒52.

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setzen nach der Vorschrift nun Werke zusammen, die den Pulsschlag des Herzens in Terzen theilen, und den Mondswechsel zeigen, und damit auch die Anfälle des dichterischen Wahnsinns und das Datum des jedesmaligen Ausbruchs hinzufügen, oder auch noch größere Artisten lassen die Taube des Albertus magnus aus ihren Händen auffliegen, die ißt und trinkt, und flattert und verdaut, und alle andern natürlichen Verrichtungen übt. Ein kostbares Kunststück ist eine solche Uhr, fragt nur die Künstler. Aber vermag sie sich durch Besinnung fortzupflanzen? Hier kommt ihr Mechanism an Tag, und es wird offenbar, daß die Seele innen nur eine Stahlfeder oder ein Gewicht ist. Nicht aber, daß wir deswegen dieses ehrsame, poetische Gewerk wider die Gebühr klein hielten, es soll alles seine Satzung haben und sein Recht, und alles, was tüchtig ist in seiner Art, so viel es werth ist, geehrt werden. An jeder Gegenwart hängt in zwey Schnüren Zukunft und Vergangenheit, alle Zeit ist nur ein Tag und nicht viele Tage, keine soll sich selbst anfangen für sich selbst, sondern was geworden ist, soll erkannt werden als Bestehendes, und nicht hingegeben der Vergessenheit, damit die Kraft nicht in fruchtlosen Wiederholungen sich verzehre. Alles Thun ist gebend nach vorwärts, empfangend nach rückwärts. Das Eine in historischer Thätigkeit, das Andere in historischer Anschauung. Eine lange Säulenreihe führt in die Vergangenheit hinab. Zwischen den Säulen stehen die alten Bilder aufgerichtet, die Menge drängt gaffend am Eingange und mauert um den Tagelohn fort, die Meister nur haben den Plan, und weil sie erkennen, was ist und was war, darum können sie gründen und fertigen, was wird. Tadeln also das Studium früherer Musterbilder wäre Unverstand. Größeren Apparates bedarf gegenwärtig die Kunst, weil sie vielsilbig geworden ist und vielgliedrig, und wie Marienglas in viele buntfarbige Spiegelblättchen aus einander geschiefert, und nicht mehr in großen Bänken geschichtet. Aber daß bloße Form[-]

setzen nach der Vorschrift nun Werke zusammen, die den Pulsschlag des Herzens in Terzen theilen, und den Mondswechsel zeigen, und damit auch die Anfaͤlle des dichterischen Wahnsinns und das Datum des jedesmaligen Ausbruchs hinzufuͤgen, oder auch noch groͤßere Artisten lassen die Taube des Albertus magnus aus ihren Haͤnden auffliegen, die ißt und trinkt, und flattert und verdaut, und alle andern natuͤrlichen Verrichtungen uͤbt. Ein kostbares Kunststuͤck ist eine solche Uhr, fragt nur die Kuͤnstler. Aber vermag sie sich durch Besinnung fortzupflanzen? Hier kommt ihr Mechanism an Tag, und es wird offenbar, daß die Seele innen nur eine Stahlfeder oder ein Gewicht ist. Nicht aber, daß wir deswegen dieses ehrsame, poetische Gewerk wider die Gebuͤhr klein hielten, es soll alles seine Satzung haben und sein Recht, und alles, was tuͤchtig ist in seiner Art, so viel es werth ist, geehrt werden. An jeder Gegenwart haͤngt in zwey Schnuͤren Zukunft und Vergangenheit, alle Zeit ist nur ein Tag und nicht viele Tage, keine soll sich selbst anfangen fuͤr sich selbst, sondern was geworden ist, soll erkannt werden als Bestehendes, und nicht hingegeben der Vergessenheit, damit die Kraft nicht in fruchtlosen Wiederholungen sich verzehre. Alles Thun ist gebend nach vorwaͤrts, empfangend nach ruͤckwaͤrts. Das Eine in historischer Thaͤtigkeit, das Andere in historischer Anschauung. Eine lange Saͤulenreihe fuͤhrt in die Vergangenheit hinab. Zwischen den Saͤulen stehen die alten Bilder aufgerichtet, die Menge draͤngt gaffend am Eingange und mauert um den Tagelohn fort, die Meister nur haben den Plan, und weil sie erkennen, was ist und was war, darum koͤnnen sie gruͤnden und fertigen, was wird. Tadeln also das Studium fruͤherer Musterbilder waͤre Unverstand. Groͤßeren Apparates bedarf gegenwaͤrtig die Kunst, weil sie vielsilbig geworden ist und vielgliedrig, und wie Marienglas in viele buntfarbige Spiegelblaͤttchen aus einander geschiefert, und nicht mehr in großen Baͤnken geschichtet. Aber daß bloße Form[-]

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[227/0007] setzen nach der Vorschrift nun Werke zusammen, die den Pulsschlag des Herzens in Terzen theilen, und den Mondswechsel zeigen, und damit auch die Anfaͤlle des dichterischen Wahnsinns und das Datum des jedesmaligen Ausbruchs hinzufuͤgen, oder auch noch groͤßere Artisten lassen die Taube des Albertus magnus aus ihren Haͤnden auffliegen, die ißt und trinkt, und flattert und verdaut, und alle andern natuͤrlichen Verrichtungen uͤbt. Ein kostbares Kunststuͤck ist eine solche Uhr, fragt nur die Kuͤnstler. Aber vermag sie sich durch Besinnung fortzupflanzen? Hier kommt ihr Mechanism an Tag, und es wird offenbar, daß die Seele innen nur eine Stahlfeder oder ein Gewicht ist. Nicht aber, daß wir deswegen dieses ehrsame, poetische Gewerk wider die Gebuͤhr klein hielten, es soll alles seine Satzung haben und sein Recht, und alles, was tuͤchtig ist in seiner Art, so viel es werth ist, geehrt werden. An jeder Gegenwart haͤngt in zwey Schnuͤren Zukunft und Vergangenheit, alle Zeit ist nur ein Tag und nicht viele Tage, keine soll sich selbst anfangen fuͤr sich selbst, sondern was geworden ist, soll erkannt werden als Bestehendes, und nicht hingegeben der Vergessenheit, damit die Kraft nicht in fruchtlosen Wiederholungen sich verzehre. Alles Thun ist gebend nach vorwaͤrts, empfangend nach ruͤckwaͤrts. Das Eine in historischer Thaͤtigkeit, das Andere in historischer Anschauung. Eine lange Saͤulenreihe fuͤhrt in die Vergangenheit hinab. Zwischen den Saͤulen stehen die alten Bilder aufgerichtet, die Menge draͤngt gaffend am Eingange und mauert um den Tagelohn fort, die Meister nur haben den Plan, und weil sie erkennen, was ist und was war, darum koͤnnen sie gruͤnden und fertigen, was wird. Tadeln also das Studium fruͤherer Musterbilder waͤre Unverstand. Groͤßeren Apparates bedarf gegenwaͤrtig die Kunst, weil sie vielsilbig geworden ist und vielgliedrig, und wie Marienglas in viele buntfarbige Spiegelblaͤttchen aus einander geschiefert, und nicht mehr in großen Baͤnken geschichtet. Aber daß bloße Form-

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Zitationshilfe: [Görres, Joseph:] [Rezension zu:] Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder gesammelt von L. A. v. Arnim u. C. Brentano. In: Heidelbergische Jahrbücher der Literatur, Fünfte Abtheilung. Philologie, Historie, schöne Literatur und Kunst, Jg. 2 (1809), Bd. 1, Heft 5, S. 222‒237 und Jg. 3 (1810), Bd. 2, Heft 9, S. 30‒52, S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goerres_wunderhorn_1809/7>, abgerufen am 29.03.2024.