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[Görres, Joseph:] [Rezension zu:] Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder gesammelt von L. A. v. Arnim u. C. Brentano. In: Heidelbergische Jahrbücher der Literatur, Fünfte Abtheilung. Philologie, Historie, schöne Literatur und Kunst, Jg. 2 (1809), Bd. 1, Heft 5, S. 222‒237 und Jg. 3 (1810), Bd. 2, Heft 9, S. 30‒52.

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fröhliges Brausen ging durch die guten, wohlfeilen Zeiten des dreyzehnten, vierzehnten und zum Theil des funfzehnten Jahrhunderts hindurch, nur dann und wann und örtlich durch Pestilenz, Kriegsverheerung, Heuschreckenzüge, Hungersnoth und Judentodschlag unterbrochen. Als späterhin die äußeren Verhältnisse drückend wurden, und theuerer die Lust, und chronischer und weit mächtiger die Uebel, wurden die Chöre immer dünner, weniger neues wurde hervorgebracht, des Alten viel vergessen, die guten Stimmen wurden weggefangen für die Höfe, viel wüste, schwirrendes Getöne trat an die Stelle des metallnen Klingens, die Singvögel zogen fort, und fette Ortolanenzüge lagen dafür in den Büschen. Die meisten, eigentlichen Volkslieder stammen aus jener früheren Zeit. Unsere Tage, die nur im politischen Enthusiasmus etwas Tüchtiges, allgemein Einschneidendes gewirkt, haben auch nur Einen tüchtigen Gassenhauer, den Marseiller Marsch, hervorgebracht, der die Franzosen zu Schlacht und Sieg begeisterte, während die Deutschen ihr Freut euch des Lebens girrten, und damit aus der Ferne schon die Genußraserey begrüßten, die bald an die Stelle der kurzen Anstrengung treten sollte. Mit den Kleidermoden drang auch die individuelle Poesie der höheren Stände zum Volk herab, und Opernarien, Moralien, Almanachslieder schwimmen im bunten Gemische durch einander, und es ist nichts nationelles und Characteristisches mehr im Volksgesange, außer jenen alten Ueberresten, zu unterscheiden.

Darum haben die Herausgeber des Wunderhorns die Bürgerkrone verdient um ihr Volk, daß sie retteten von dem Untergange, was sich noch retten ließ. Wie Bienenväter haben sie durch Spruch und Klang und Gesang die Fliegenden um sich her gesammelt, eben in dem Augenblicke, wo sie verschwärmen wollten, und haben eine Stätte für sie zubereitet, in der sie überwintern können. Wie die Jrrlichter um die verwesende Pflanze herflattern, so um die alten Burgen, die Dome und Kapellen, um die Bilder und das Epheugemäuer,

froͤhliges Brausen ging durch die guten, wohlfeilen Zeiten des dreyzehnten, vierzehnten und zum Theil des funfzehnten Jahrhunderts hindurch, nur dann und wann und oͤrtlich durch Pestilenz, Kriegsverheerung, Heuschreckenzuͤge, Hungersnoth und Judentodschlag unterbrochen. Als spaͤterhin die aͤußeren Verhaͤltnisse druͤckend wurden, und theuerer die Lust, und chronischer und weit maͤchtiger die Uebel, wurden die Choͤre immer duͤnner, weniger neues wurde hervorgebracht, des Alten viel vergessen, die guten Stimmen wurden weggefangen fuͤr die Hoͤfe, viel wuͤste, schwirrendes Getoͤne trat an die Stelle des metallnen Klingens, die Singvoͤgel zogen fort, und fette Ortolanenzuͤge lagen dafuͤr in den Buͤschen. Die meisten, eigentlichen Volkslieder stammen aus jener fruͤheren Zeit. Unsere Tage, die nur im politischen Enthusiasmus etwas Tuͤchtiges, allgemein Einschneidendes gewirkt, haben auch nur Einen tuͤchtigen Gassenhauer, den Marseiller Marsch, hervorgebracht, der die Franzosen zu Schlacht und Sieg begeisterte, waͤhrend die Deutschen ihr Freut euch des Lebens girrten, und damit aus der Ferne schon die Genußraserey begruͤßten, die bald an die Stelle der kurzen Anstrengung treten sollte. Mit den Kleidermoden drang auch die individuelle Poesie der hoͤheren Staͤnde zum Volk herab, und Opernarien, Moralien, Almanachslieder schwimmen im bunten Gemische durch einander, und es ist nichts nationelles und Characteristisches mehr im Volksgesange, außer jenen alten Ueberresten, zu unterscheiden.

Darum haben die Herausgeber des Wunderhorns die Buͤrgerkrone verdient um ihr Volk, daß sie retteten von dem Untergange, was sich noch retten ließ. Wie Bienenvaͤter haben sie durch Spruch und Klang und Gesang die Fliegenden um sich her gesammelt, eben in dem Augenblicke, wo sie verschwaͤrmen wollten, und haben eine Staͤtte fuͤr sie zubereitet, in der sie uͤberwintern koͤnnen. Wie die Jrrlichter um die verwesende Pflanze herflattern, so um die alten Burgen, die Dome und Kapellen, um die Bilder und das Epheugemaͤuer,

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[231/0011] froͤhliges Brausen ging durch die guten, wohlfeilen Zeiten des dreyzehnten, vierzehnten und zum Theil des funfzehnten Jahrhunderts hindurch, nur dann und wann und oͤrtlich durch Pestilenz, Kriegsverheerung, Heuschreckenzuͤge, Hungersnoth und Judentodschlag unterbrochen. Als spaͤterhin die aͤußeren Verhaͤltnisse druͤckend wurden, und theuerer die Lust, und chronischer und weit maͤchtiger die Uebel, wurden die Choͤre immer duͤnner, weniger neues wurde hervorgebracht, des Alten viel vergessen, die guten Stimmen wurden weggefangen fuͤr die Hoͤfe, viel wuͤste, schwirrendes Getoͤne trat an die Stelle des metallnen Klingens, die Singvoͤgel zogen fort, und fette Ortolanenzuͤge lagen dafuͤr in den Buͤschen. Die meisten, eigentlichen Volkslieder stammen aus jener fruͤheren Zeit. Unsere Tage, die nur im politischen Enthusiasmus etwas Tuͤchtiges, allgemein Einschneidendes gewirkt, haben auch nur Einen tuͤchtigen Gassenhauer, den Marseiller Marsch, hervorgebracht, der die Franzosen zu Schlacht und Sieg begeisterte, waͤhrend die Deutschen ihr Freut euch des Lebens girrten, und damit aus der Ferne schon die Genußraserey begruͤßten, die bald an die Stelle der kurzen Anstrengung treten sollte. Mit den Kleidermoden drang auch die individuelle Poesie der hoͤheren Staͤnde zum Volk herab, und Opernarien, Moralien, Almanachslieder schwimmen im bunten Gemische durch einander, und es ist nichts nationelles und Characteristisches mehr im Volksgesange, außer jenen alten Ueberresten, zu unterscheiden. Darum haben die Herausgeber des Wunderhorns die Buͤrgerkrone verdient um ihr Volk, daß sie retteten von dem Untergange, was sich noch retten ließ. Wie Bienenvaͤter haben sie durch Spruch und Klang und Gesang die Fliegenden um sich her gesammelt, eben in dem Augenblicke, wo sie verschwaͤrmen wollten, und haben eine Staͤtte fuͤr sie zubereitet, in der sie uͤberwintern koͤnnen. Wie die Jrrlichter um die verwesende Pflanze herflattern, so um die alten Burgen, die Dome und Kapellen, um die Bilder und das Epheugemaͤuer,

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Zitationshilfe: [Görres, Joseph:] [Rezension zu:] Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder gesammelt von L. A. v. Arnim u. C. Brentano. In: Heidelbergische Jahrbücher der Literatur, Fünfte Abtheilung. Philologie, Historie, schöne Literatur und Kunst, Jg. 2 (1809), Bd. 1, Heft 5, S. 222‒237 und Jg. 3 (1810), Bd. 2, Heft 9, S. 30‒52, S. 231. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goerres_wunderhorn_1809/11>, abgerufen am 19.04.2024.