Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Görres, Joseph von: Teutschland und die Revolution. Koblenz, 1819.

Bild:
<< vorherige Seite

die Gefahr nicht aufs Hintenbleiben, wohl aber aufs
Ueberschnellen steht.

Da die Sachen nun also stehen, und bis die
Hand, die den Franzosen ihr Mane, Thecel, Phares
in die Flammen von Moscau hineingeschrieben, auch
unsere Sentenz unwiderruflich in brennenden Zügen
an den Himmel schreibt, ist an Jeden, dem das Ge¬
tümmel der Zeit die Sinne nicht verwirrt, und der
das Haupt noch in ruhiger Besonnenheit über den
bewegten Fluthen hält, das Gebot ergangen, zu stehen
auf der Warte der Zeit, zu wachen und zu merken
auf die Zeichen, zu rufen und zu warnen ohne Unter¬
laß. Allerdings hat Schweigen seine Zeit und das
Reden die seinige. Wenn der menschliche Dünkel
keck das hohe Roß beschreitet, und mit verhängtem
Zügel nach allen Gelüsten seiner Einbildungen und
Leidenschaften jagt; wenn die Gewalt ihres Ursprungs
und des innern Richtmaßes der Dinge vergessend,
geängstigt durch eine Zeit, die sie nicht begreift, noch
weniger zu bändigen weiß, alle ihre Fassung verliert,
taumelnd alle Grenzpfähle der Nemesis niederreißt,
und nicht blos die ethischen Schranken des Erlaubten
und Unerlaubten durchbricht, sondern sogar alle die
feinern Beziehungen dessen, was ziemlich ist und was
sich nimmer ziemt, mißkennt und ohne Haltung bald
tyrannische Gewaltthat übt, bald wieder schwach und
nachgiebig, weil sie durch jene ihr Recht verwirkte,
sich alles gefallen läßt: im Anfalle eines solchen Pa¬
roxismus mag allerdings der Einzelne ruhig zur Seite
treten, und vertrauen auf das starke Weltgesetz, das
Gott wie in die Natur, so in die Gesellschaft hinein¬

die Gefahr nicht aufs Hintenbleiben, wohl aber aufs
Ueberſchnellen ſteht.

Da die Sachen nun alſo ſtehen, und bis die
Hand, die den Franzoſen ihr Mane, Thecel, Phares
in die Flammen von Moscau hineingeſchrieben, auch
unſere Sentenz unwiderruflich in brennenden Zügen
an den Himmel ſchreibt, iſt an Jeden, dem das Ge¬
tümmel der Zeit die Sinne nicht verwirrt, und der
das Haupt noch in ruhiger Beſonnenheit über den
bewegten Fluthen hält, das Gebot ergangen, zu ſtehen
auf der Warte der Zeit, zu wachen und zu merken
auf die Zeichen, zu rufen und zu warnen ohne Unter¬
laß. Allerdings hat Schweigen ſeine Zeit und das
Reden die ſeinige. Wenn der menſchliche Dünkel
keck das hohe Roß beſchreitet, und mit verhängtem
Zügel nach allen Gelüſten ſeiner Einbildungen und
Leidenſchaften jagt; wenn die Gewalt ihres Urſprungs
und des innern Richtmaßes der Dinge vergeſſend,
geängſtigt durch eine Zeit, die ſie nicht begreift, noch
weniger zu bändigen weiß, alle ihre Faſſung verliert,
taumelnd alle Grenzpfähle der Nemeſis niederreißt,
und nicht blos die ethiſchen Schranken des Erlaubten
und Unerlaubten durchbricht, ſondern ſogar alle die
feinern Beziehungen deſſen, was ziemlich iſt und was
ſich nimmer ziemt, mißkennt und ohne Haltung bald
tyranniſche Gewaltthat übt, bald wieder ſchwach und
nachgiebig, weil ſie durch jene ihr Recht verwirkte,
ſich alles gefallen läßt: im Anfalle eines ſolchen Pa¬
roxismus mag allerdings der Einzelne ruhig zur Seite
treten, und vertrauen auf das ſtarke Weltgeſetz, das
Gott wie in die Natur, ſo in die Geſellſchaft hinein¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <p><pb facs="#f0012" n="4"/>
die Gefahr nicht aufs Hintenbleiben, wohl aber aufs<lb/>
Ueber&#x017F;chnellen &#x017F;teht.</p><lb/>
      <p>Da die Sachen nun al&#x017F;o &#x017F;tehen, und bis die<lb/>
Hand, die den Franzo&#x017F;en ihr Mane, Thecel, Phares<lb/>
in die Flammen von Moscau hineinge&#x017F;chrieben, auch<lb/>
un&#x017F;ere Sentenz unwiderruflich in brennenden Zügen<lb/>
an den Himmel &#x017F;chreibt, i&#x017F;t an Jeden, dem das Ge¬<lb/>
tümmel der Zeit die Sinne nicht verwirrt, und der<lb/>
das Haupt noch in ruhiger Be&#x017F;onnenheit über den<lb/>
bewegten Fluthen hält, das Gebot ergangen, zu &#x017F;tehen<lb/>
auf der Warte der Zeit, zu wachen und zu merken<lb/>
auf die Zeichen, zu rufen und zu warnen ohne Unter¬<lb/>
laß. Allerdings hat Schweigen &#x017F;eine Zeit und das<lb/>
Reden die &#x017F;einige. Wenn der men&#x017F;chliche Dünkel<lb/>
keck das hohe Roß be&#x017F;chreitet, und mit verhängtem<lb/>
Zügel nach allen Gelü&#x017F;ten &#x017F;einer Einbildungen und<lb/>
Leiden&#x017F;chaften jagt; wenn die Gewalt ihres Ur&#x017F;prungs<lb/>
und des innern Richtmaßes der Dinge verge&#x017F;&#x017F;end,<lb/>
geäng&#x017F;tigt durch eine Zeit, die &#x017F;ie nicht begreift, noch<lb/>
weniger zu bändigen weiß, alle ihre Fa&#x017F;&#x017F;ung verliert,<lb/>
taumelnd alle Grenzpfähle der Neme&#x017F;is niederreißt,<lb/>
und nicht blos die ethi&#x017F;chen Schranken des Erlaubten<lb/>
und Unerlaubten durchbricht, &#x017F;ondern &#x017F;ogar alle die<lb/>
feinern Beziehungen de&#x017F;&#x017F;en, was ziemlich i&#x017F;t und was<lb/>
&#x017F;ich nimmer ziemt, mißkennt und ohne Haltung bald<lb/>
tyranni&#x017F;che Gewaltthat übt, bald wieder &#x017F;chwach und<lb/>
nachgiebig, weil &#x017F;ie durch jene ihr Recht verwirkte,<lb/>
&#x017F;ich alles gefallen läßt: im Anfalle eines &#x017F;olchen Pa¬<lb/>
roxismus mag allerdings der Einzelne ruhig zur Seite<lb/>
treten, und vertrauen auf das &#x017F;tarke Weltge&#x017F;etz, das<lb/>
Gott wie in die Natur, &#x017F;o in die Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft hinein¬<lb/></p>
    </body>
  </text>
</TEI>
[4/0012] die Gefahr nicht aufs Hintenbleiben, wohl aber aufs Ueberſchnellen ſteht. Da die Sachen nun alſo ſtehen, und bis die Hand, die den Franzoſen ihr Mane, Thecel, Phares in die Flammen von Moscau hineingeſchrieben, auch unſere Sentenz unwiderruflich in brennenden Zügen an den Himmel ſchreibt, iſt an Jeden, dem das Ge¬ tümmel der Zeit die Sinne nicht verwirrt, und der das Haupt noch in ruhiger Beſonnenheit über den bewegten Fluthen hält, das Gebot ergangen, zu ſtehen auf der Warte der Zeit, zu wachen und zu merken auf die Zeichen, zu rufen und zu warnen ohne Unter¬ laß. Allerdings hat Schweigen ſeine Zeit und das Reden die ſeinige. Wenn der menſchliche Dünkel keck das hohe Roß beſchreitet, und mit verhängtem Zügel nach allen Gelüſten ſeiner Einbildungen und Leidenſchaften jagt; wenn die Gewalt ihres Urſprungs und des innern Richtmaßes der Dinge vergeſſend, geängſtigt durch eine Zeit, die ſie nicht begreift, noch weniger zu bändigen weiß, alle ihre Faſſung verliert, taumelnd alle Grenzpfähle der Nemeſis niederreißt, und nicht blos die ethiſchen Schranken des Erlaubten und Unerlaubten durchbricht, ſondern ſogar alle die feinern Beziehungen deſſen, was ziemlich iſt und was ſich nimmer ziemt, mißkennt und ohne Haltung bald tyranniſche Gewaltthat übt, bald wieder ſchwach und nachgiebig, weil ſie durch jene ihr Recht verwirkte, ſich alles gefallen läßt: im Anfalle eines ſolchen Pa¬ roxismus mag allerdings der Einzelne ruhig zur Seite treten, und vertrauen auf das ſtarke Weltgeſetz, das Gott wie in die Natur, ſo in die Geſellſchaft hinein¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goerres_revolution_1819
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goerres_revolution_1819/12
Zitationshilfe: Görres, Joseph von: Teutschland und die Revolution. Koblenz, 1819, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goerres_revolution_1819/12>, abgerufen am 25.04.2024.