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Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Sie liebt das Kind nur, weil es ihr Kind, ihr Fleisch und Blut, ein Theil von ihr selbst ist; o, ich kenne diese Art von Elternliebe, sagte Bernhard.

3. Wer ist das Opfer?

Man hatte die Gräfin wirklich überredet, nach Ostende zu reisen und ihr vergöttertes Kind so lange unter der Hut ihrer Mutter zurückzulassen. Der Graf hingegen begleitete seine Gemahlin in das Seebad.

Im Anfange bekam die Trennung Mutter und Kind gleich wohl, die Gräfin erfreute sich einer ganz ungestörten Ruhe, und das Kind genoß, weniger von der ängstlichen Mutter bewacht, mehr Freiheit und gedieh und entwickelte sich sichtbar. Da, ganz plötzlich, die Gräfin war vielleicht drei Wochen abwesend, erkrankte der kleine Bernhard, der Arzt erklärte, das Gehirn sei afficirt, und man ließ den Grafen von Ostende kommen, der nur unter einem Vorwande seine Gemahlin zu verlassen wagte und ihr keine Silbe von der Krankheit des Kindes mittheilte. Aber schon als der Vater ankam, war das Kind rettungslos, und nach drei Tagen war es eine Leiche.

Bernhard, der am Todestage seines Pathen hinüber geritten war, sah zufällig den Grafen, aber Keiner erkannte den Andern. Der Graf erkannte Bern-

Sie liebt das Kind nur, weil es ihr Kind, ihr Fleisch und Blut, ein Theil von ihr selbst ist; o, ich kenne diese Art von Elternliebe, sagte Bernhard.

3. Wer ist das Opfer?

Man hatte die Gräfin wirklich überredet, nach Ostende zu reisen und ihr vergöttertes Kind so lange unter der Hut ihrer Mutter zurückzulassen. Der Graf hingegen begleitete seine Gemahlin in das Seebad.

Im Anfange bekam die Trennung Mutter und Kind gleich wohl, die Gräfin erfreute sich einer ganz ungestörten Ruhe, und das Kind genoß, weniger von der ängstlichen Mutter bewacht, mehr Freiheit und gedieh und entwickelte sich sichtbar. Da, ganz plötzlich, die Gräfin war vielleicht drei Wochen abwesend, erkrankte der kleine Bernhard, der Arzt erklärte, das Gehirn sei afficirt, und man ließ den Grafen von Ostende kommen, der nur unter einem Vorwande seine Gemahlin zu verlassen wagte und ihr keine Silbe von der Krankheit des Kindes mittheilte. Aber schon als der Vater ankam, war das Kind rettungslos, und nach drei Tagen war es eine Leiche.

Bernhard, der am Todestage seines Pathen hinüber geritten war, sah zufällig den Grafen, aber Keiner erkannte den Andern. Der Graf erkannte Bern-

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[0030] Sie liebt das Kind nur, weil es ihr Kind, ihr Fleisch und Blut, ein Theil von ihr selbst ist; o, ich kenne diese Art von Elternliebe, sagte Bernhard. 3. Wer ist das Opfer? Man hatte die Gräfin wirklich überredet, nach Ostende zu reisen und ihr vergöttertes Kind so lange unter der Hut ihrer Mutter zurückzulassen. Der Graf hingegen begleitete seine Gemahlin in das Seebad. Im Anfange bekam die Trennung Mutter und Kind gleich wohl, die Gräfin erfreute sich einer ganz ungestörten Ruhe, und das Kind genoß, weniger von der ängstlichen Mutter bewacht, mehr Freiheit und gedieh und entwickelte sich sichtbar. Da, ganz plötzlich, die Gräfin war vielleicht drei Wochen abwesend, erkrankte der kleine Bernhard, der Arzt erklärte, das Gehirn sei afficirt, und man ließ den Grafen von Ostende kommen, der nur unter einem Vorwande seine Gemahlin zu verlassen wagte und ihr keine Silbe von der Krankheit des Kindes mittheilte. Aber schon als der Vater ankam, war das Kind rettungslos, und nach drei Tagen war es eine Leiche. Bernhard, der am Todestage seines Pathen hinüber geritten war, sah zufällig den Grafen, aber Keiner erkannte den Andern. Der Graf erkannte Bern-

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-14T15:13:13Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-14T15:13:13Z)

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Zitationshilfe: Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_luege_1910/30>, abgerufen am 24.04.2024.