Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

Bild:
<< vorherige Seite

hätten sie an Visionen erinnert, die sie beim Tode ihres Bruders gehabt. (Mit 19 Jahren.) Ich spare diese Erinnerung für später auf. Ferner frage ich, ob sie immer mit diesem Stottern gesprochen und seit wann sie den Tick (das eigenthümliche Schnalzen) habe.1" Das Stottern sei eine Krankheitserscheinung, und den Tick habe sie seit 5 Jahren, seitdem sie einmal beim Bett der sehr kranken jüngeren Tochter sass und sich ganz ruhig verhalten wollte. - Ich versuche die Bedeutung dieser Erinnerung abzuschwächen, der Tochter sei ja nichts geschehen u. s. w. Sie: es komme jedesmal wieder, wenn sie sich ängstige oder erschrecke. - Ich trage ihr auf, sich vor den Indianerbildern nicht zu fürchten, vielmehr herzlich darüber zu lachen und mich selbst darauf aufmerksam zu machen. So geschieht es auch nach dem Erwachen; sie sucht das Buch, fragt, ob ich es eigentlich schon gesehen habe, schlägt mir das Blatt auf und lacht aus vollem Halse über die grotesken Figuren, ohne jede Angst, mit ganz glatten Zügen. Dr. Breuer kommt plötzlich zu Besuch in Begleitung des Hausarztes. Sie erschrickt und schnalzt, so dass die Beiden uns sehr bald verlassen. Sie erklärt ihre Erregung dadurch, dass sie das jedesmalige Miterscheinen des Hausarztes unangenehm berühre.

Ich hatte in der Hypnose ferner den Magenschmerz durch Streichen weggenommen und gesagt, sie werde nach dem Essen die Wiederkehr des Schmerzes zwar erwarten, er aber doch ausbleiben.

Abends. Sie ist zum erstenmal heiter und gesprächig, entwickelt einen Humor, den ich bei dieser ernsten Frau nicht gesucht hätte, und macht sich unter anderem im Vollgefühl ihrer Besserung über die Behandlung meines ärztlichen Vorgängers lustig. Sie hätte schon lange die Absicht gehabt, sich dieser Behandlung zu entziehen, konnte aber die Form nicht finden, bis eine zufällige Bemerkung von Dr. Breuer, der sie einmal besuchte, sie auf einen Ausweg brachte. Da ich über diese Mittheilung erstaunt scheine, erschrickt sie, macht sich die heftigsten Vorwürfe, eine Indiscretion begangen zu haben, lässt sich aber von mir anscheinend beschwichtigen. - Keine Magenschmerzen, trotzdem sie dieselben erwartet hat.

In der Hypnose frage ich nach weiteren Erlebnissen, bei denen sie nachhaltig erschrocken sei. Sie bringt eine zweite solche Reihe aus ihrer späteren Jugend ebenso prompt wie die erstere und versichert wiederum, dass sie alle diese Scenen häufig, lebhaft und in Farben vor sich sehe. Wie sie ihre Cousine ins Irrenhaus führen sah (mit

1 Im Wachen hatte ich auf die Frage nach der Herkunft des Tick die Antwort erhalten: Ich weiss nicht; oh, schon sehr lange.

hätten sie an Visionen erinnert, die sie beim Tode ihres Bruders gehabt. (Mit 19 Jahren.) Ich spare diese Erinnerung für später auf. Ferner frage ich, ob sie immer mit diesem Stottern gesprochen und seit wann sie den Tick (das eigenthümliche Schnalzen) habe.1" Das Stottern sei eine Krankheitserscheinung, und den Tick habe sie seit 5 Jahren, seitdem sie einmal beim Bett der sehr kranken jüngeren Tochter sass und sich ganz ruhig verhalten wollte. – Ich versuche die Bedeutung dieser Erinnerung abzuschwächen, der Tochter sei ja nichts geschehen u. s. w. Sie: es komme jedesmal wieder, wenn sie sich ängstige oder erschrecke. – Ich trage ihr auf, sich vor den Indianerbildern nicht zu fürchten, vielmehr herzlich darüber zu lachen und mich selbst darauf aufmerksam zu machen. So geschieht es auch nach dem Erwachen; sie sucht das Buch, fragt, ob ich es eigentlich schon gesehen habe, schlägt mir das Blatt auf und lacht aus vollem Halse über die grotesken Figuren, ohne jede Angst, mit ganz glatten Zügen. Dr. Breuer kommt plötzlich zu Besuch in Begleitung des Hausarztes. Sie erschrickt und schnalzt, so dass die Beiden uns sehr bald verlassen. Sie erklärt ihre Erregung dadurch, dass sie das jedesmalige Miterscheinen des Hausarztes unangenehm berühre.

Ich hatte in der Hypnose ferner den Magenschmerz durch Streichen weggenommen und gesagt, sie werde nach dem Essen die Wiederkehr des Schmerzes zwar erwarten, er aber doch ausbleiben.

Abends. Sie ist zum erstenmal heiter und gesprächig, entwickelt einen Humor, den ich bei dieser ernsten Frau nicht gesucht hätte, und macht sich unter anderem im Vollgefühl ihrer Besserung über die Behandlung meines ärztlichen Vorgängers lustig. Sie hätte schon lange die Absicht gehabt, sich dieser Behandlung zu entziehen, konnte aber die Form nicht finden, bis eine zufällige Bemerkung von Dr. Breuer, der sie einmal besuchte, sie auf einen Ausweg brachte. Da ich über diese Mittheilung erstaunt scheine, erschrickt sie, macht sich die heftigsten Vorwürfe, eine Indiscretion begangen zu haben, lässt sich aber von mir anscheinend beschwichtigen. – Keine Magenschmerzen, trotzdem sie dieselben erwartet hat.

In der Hypnose frage ich nach weiteren Erlebnissen, bei denen sie nachhaltig erschrocken sei. Sie bringt eine zweite solche Reihe aus ihrer späteren Jugend ebenso prompt wie die erstere und versichert wiederum, dass sie alle diese Scenen häufig, lebhaft und in Farben vor sich sehe. Wie sie ihre Cousine ins Irrenhaus führen sah (mit

1 Im Wachen hatte ich auf die Frage nach der Herkunft des Tick die Antwort erhalten: Ich weiss nicht; oh, schon sehr lange.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0049" n="43"/>
hätten sie an Visionen erinnert, die sie beim Tode ihres Bruders gehabt. (Mit 19 Jahren.) Ich spare diese Erinnerung für später auf. Ferner frage ich, ob sie immer mit diesem Stottern gesprochen und seit wann sie den Tick (das eigenthümliche Schnalzen) habe.<note place="foot" n="1">Im Wachen hatte ich auf die Frage nach der Herkunft des Tick die Antwort erhalten: Ich weiss nicht; oh, schon sehr lange.</note>" Das Stottern sei eine Krankheitserscheinung, und den Tick habe sie seit 5 Jahren, seitdem sie einmal beim Bett der sehr kranken jüngeren Tochter sass und sich ganz <hi rendition="#g">ruhig</hi> verhalten wollte. &#x2013; Ich versuche die Bedeutung dieser Erinnerung abzuschwächen, der Tochter sei ja nichts geschehen u. s. w. Sie: es komme jedesmal wieder, wenn sie sich ängstige oder erschrecke. &#x2013; Ich trage ihr auf, sich vor den Indianerbildern nicht zu fürchten, vielmehr herzlich darüber zu lachen und mich selbst darauf aufmerksam zu machen. So geschieht es auch nach dem Erwachen; sie sucht das Buch, fragt, ob ich es eigentlich schon gesehen habe, schlägt mir das Blatt auf und lacht aus vollem Halse über die grotesken Figuren, ohne jede Angst, mit ganz glatten Zügen. Dr. <hi rendition="#g">Breuer</hi> kommt plötzlich zu Besuch in Begleitung <choice><sic>dss</sic><corr>des</corr></choice> Hausarztes. Sie erschrickt und schnalzt, so dass die Beiden uns sehr bald verlassen. Sie erklärt ihre Erregung dadurch, dass sie das jedesmalige Miterscheinen des Hausarztes unangenehm berühre.</p>
          <p>Ich hatte in der Hypnose ferner den Magenschmerz durch Streichen weggenommen und gesagt, sie werde nach dem Essen die Wiederkehr des Schmerzes zwar erwarten, er aber doch ausbleiben.</p>
          <p><hi rendition="#g">Abends</hi>. Sie ist zum erstenmal heiter und gesprächig, entwickelt einen Humor, den ich bei dieser ernsten Frau nicht gesucht hätte, und macht sich unter anderem im Vollgefühl ihrer Besserung über die Behandlung meines ärztlichen Vorgängers lustig. Sie hätte schon lange die Absicht gehabt, sich dieser Behandlung zu entziehen, konnte aber die Form nicht finden, bis eine zufällige Bemerkung von Dr. <hi rendition="#g">Breuer</hi>, der sie einmal besuchte, sie auf einen Ausweg brachte. Da ich über diese Mittheilung erstaunt scheine, erschrickt sie, macht sich die heftigsten Vorwürfe, eine Indiscretion begangen zu haben, lässt sich aber von mir anscheinend beschwichtigen. &#x2013; Keine Magenschmerzen, trotzdem sie dieselben erwartet hat.</p>
          <p>In der Hypnose frage ich nach weiteren Erlebnissen, bei denen sie nachhaltig erschrocken sei. Sie bringt eine zweite solche Reihe aus ihrer späteren Jugend ebenso prompt wie die erstere und versichert wiederum, dass sie alle diese Scenen häufig, lebhaft und in Farben vor sich sehe. Wie sie ihre Cousine ins Irrenhaus führen sah (mit
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[43/0049] hätten sie an Visionen erinnert, die sie beim Tode ihres Bruders gehabt. (Mit 19 Jahren.) Ich spare diese Erinnerung für später auf. Ferner frage ich, ob sie immer mit diesem Stottern gesprochen und seit wann sie den Tick (das eigenthümliche Schnalzen) habe. 1" Das Stottern sei eine Krankheitserscheinung, und den Tick habe sie seit 5 Jahren, seitdem sie einmal beim Bett der sehr kranken jüngeren Tochter sass und sich ganz ruhig verhalten wollte. – Ich versuche die Bedeutung dieser Erinnerung abzuschwächen, der Tochter sei ja nichts geschehen u. s. w. Sie: es komme jedesmal wieder, wenn sie sich ängstige oder erschrecke. – Ich trage ihr auf, sich vor den Indianerbildern nicht zu fürchten, vielmehr herzlich darüber zu lachen und mich selbst darauf aufmerksam zu machen. So geschieht es auch nach dem Erwachen; sie sucht das Buch, fragt, ob ich es eigentlich schon gesehen habe, schlägt mir das Blatt auf und lacht aus vollem Halse über die grotesken Figuren, ohne jede Angst, mit ganz glatten Zügen. Dr. Breuer kommt plötzlich zu Besuch in Begleitung des Hausarztes. Sie erschrickt und schnalzt, so dass die Beiden uns sehr bald verlassen. Sie erklärt ihre Erregung dadurch, dass sie das jedesmalige Miterscheinen des Hausarztes unangenehm berühre. Ich hatte in der Hypnose ferner den Magenschmerz durch Streichen weggenommen und gesagt, sie werde nach dem Essen die Wiederkehr des Schmerzes zwar erwarten, er aber doch ausbleiben. Abends. Sie ist zum erstenmal heiter und gesprächig, entwickelt einen Humor, den ich bei dieser ernsten Frau nicht gesucht hätte, und macht sich unter anderem im Vollgefühl ihrer Besserung über die Behandlung meines ärztlichen Vorgängers lustig. Sie hätte schon lange die Absicht gehabt, sich dieser Behandlung zu entziehen, konnte aber die Form nicht finden, bis eine zufällige Bemerkung von Dr. Breuer, der sie einmal besuchte, sie auf einen Ausweg brachte. Da ich über diese Mittheilung erstaunt scheine, erschrickt sie, macht sich die heftigsten Vorwürfe, eine Indiscretion begangen zu haben, lässt sich aber von mir anscheinend beschwichtigen. – Keine Magenschmerzen, trotzdem sie dieselben erwartet hat. In der Hypnose frage ich nach weiteren Erlebnissen, bei denen sie nachhaltig erschrocken sei. Sie bringt eine zweite solche Reihe aus ihrer späteren Jugend ebenso prompt wie die erstere und versichert wiederum, dass sie alle diese Scenen häufig, lebhaft und in Farben vor sich sehe. Wie sie ihre Cousine ins Irrenhaus führen sah (mit 1 Im Wachen hatte ich auf die Frage nach der Herkunft des Tick die Antwort erhalten: Ich weiss nicht; oh, schon sehr lange.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-10-26T10:30:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-10-26T10:30:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-10-26T10:30:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/49
Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/49>, abgerufen am 28.03.2024.