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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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hindurch auf jede stark rhythmirte Musik mit einer Tussis nervosa.

Ich bedauere nicht allzusehr, dass die Unvollständigkeit meiner Notizen es unmöglich macht, hier sämmtliche Hysterica auf ihre Veranlassungen zurückzuführen. Patientin that es bei allen, mit der oben erwähnten Ausnahme, und jedes Symptom war, wie geschildert, nach der Erzählung des ersten Anlasses verschwunden.

Auf diese Weise schloss auch die ganze Hysterie ab. Die Kranke hatte sich selbst den festen Vorsatz gebildet, am Jahrestag ihrer Transferirung auf das Land müsse sie mit allem fertig sein. Sie betrieb darum Anfangs Juni die "talking cure" mit grosser, aufregender Energie. Am letzten Tage reproducirte sie mit der Nachhilfe, dass sie das Zimmer so arrangirte, wie das Krankenzimmer ihres Vaters gewesen war, die oben erzählte Angsthallucination, welche die Wurzel der ganzen Erkrankung gewesen war, und in der sie nur englisch hatte denken und beten können; sprach unmittelbar darauf deutsch und war nun frei von all den unzähligen einzelnen Störungen, die sie früher dargeboten hatte. Dann verliess sie Wien für eine Reise, brauchte aber doch noch längere Zeit, bis sie ganz ihr psychisches Gleichgewicht gefunden hatte. Seitdem erfreut sie sich vollständiger Gesundheit.



So viel nicht uninteressanter Einzelheiten ich auch unterdrückt habe, ist doch die Krankengeschichte der Anna O . . umfangreicher geworden, als eine an sich nicht ungewöhnliche hysterische Erkrankung zu verdienen scheint. Aber die Darstellung des Falles war unmöglich ohne Eingehen ins Detail, und die Eigenthümlichkeiten desselben scheinen mir von einer Wichtigkeit, welche das ausführliche Referat entschuldigen dürfte. Auch die Echinodermeneier sind für die Embryologie nicht deshalb so wichtig, weil etwa der Seeigel ein besonders interessantes Thier wäre, sondern weil ihr Protoplasma durchsichtig ist, und man aus dem, was man an ihnen sehen kann, auf das schliesst, was an den Eiern mit trübem Plasma auch vorgehen dürfte.

In der weitgehenden Durchsichtigkeit und Erklärbarkeit seiner Pathogenese scheint mir vor allem das Interesse dieses Falles zu liegen.

Als disponirend zur hysterischen Erkrankung finden wir bei dem noch völlig gesunden Mädchen zwei psychische Eigenthümlichkeiten:

hindurch auf jede stark rhythmirte Musik mit einer Tussis nervosa.

Ich bedauere nicht allzusehr, dass die Unvollständigkeit meiner Notizen es unmöglich macht, hier sämmtliche Hysterica auf ihre Veranlassungen zurückzuführen. Patientin that es bei allen, mit der oben erwähnten Ausnahme, und jedes Symptom war, wie geschildert, nach der Erzählung des ersten Anlasses verschwunden.

Auf diese Weise schloss auch die ganze Hysterie ab. Die Kranke hatte sich selbst den festen Vorsatz gebildet, am Jahrestag ihrer Transferirung auf das Land müsse sie mit allem fertig sein. Sie betrieb darum Anfangs Juni die „talking cure“ mit grosser, aufregender Energie. Am letzten Tage reproducirte sie mit der Nachhilfe, dass sie das Zimmer so arrangirte, wie das Krankenzimmer ihres Vaters gewesen war, die oben erzählte Angsthallucination, welche die Wurzel der ganzen Erkrankung gewesen war, und in der sie nur englisch hatte denken und beten können; sprach unmittelbar darauf deutsch und war nun frei von all den unzähligen einzelnen Störungen, die sie früher dargeboten hatte. Dann verliess sie Wien für eine Reise, brauchte aber doch noch längere Zeit, bis sie ganz ihr psychisches Gleichgewicht gefunden hatte. Seitdem erfreut sie sich vollständiger Gesundheit.



So viel nicht uninteressanter Einzelheiten ich auch unterdrückt habe, ist doch die Krankengeschichte der Anna O . . umfangreicher geworden, als eine an sich nicht ungewöhnliche hysterische Erkrankung zu verdienen scheint. Aber die Darstellung des Falles war unmöglich ohne Eingehen ins Detail, und die Eigenthümlichkeiten desselben scheinen mir von einer Wichtigkeit, welche das ausführliche Referat entschuldigen dürfte. Auch die Echinodermeneier sind für die Embryologie nicht deshalb so wichtig, weil etwa der Seeigel ein besonders interessantes Thier wäre, sondern weil ihr Protoplasma durchsichtig ist, und man aus dem, was man an ihnen sehen kann, auf das schliesst, was an den Eiern mit trübem Plasma auch vorgehen dürfte.

In der weitgehenden Durchsichtigkeit und Erklärbarkeit seiner Pathogenese scheint mir vor allem das Interesse dieses Falles zu liegen.

Als disponirend zur hysterischen Erkrankung finden wir bei dem noch völlig gesunden Mädchen zwei psychische Eigenthümlichkeiten:

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[32/0038] hindurch auf jede stark rhythmirte Musik mit einer Tussis nervosa. Ich bedauere nicht allzusehr, dass die Unvollständigkeit meiner Notizen es unmöglich macht, hier sämmtliche Hysterica auf ihre Veranlassungen zurückzuführen. Patientin that es bei allen, mit der oben erwähnten Ausnahme, und jedes Symptom war, wie geschildert, nach der Erzählung des ersten Anlasses verschwunden. Auf diese Weise schloss auch die ganze Hysterie ab. Die Kranke hatte sich selbst den festen Vorsatz gebildet, am Jahrestag ihrer Transferirung auf das Land müsse sie mit allem fertig sein. Sie betrieb darum Anfangs Juni die „talking cure“ mit grosser, aufregender Energie. Am letzten Tage reproducirte sie mit der Nachhilfe, dass sie das Zimmer so arrangirte, wie das Krankenzimmer ihres Vaters gewesen war, die oben erzählte Angsthallucination, welche die Wurzel der ganzen Erkrankung gewesen war, und in der sie nur englisch hatte denken und beten können; sprach unmittelbar darauf deutsch und war nun frei von all den unzähligen einzelnen Störungen, die sie früher dargeboten hatte. Dann verliess sie Wien für eine Reise, brauchte aber doch noch längere Zeit, bis sie ganz ihr psychisches Gleichgewicht gefunden hatte. Seitdem erfreut sie sich vollständiger Gesundheit. So viel nicht uninteressanter Einzelheiten ich auch unterdrückt habe, ist doch die Krankengeschichte der Anna O . . umfangreicher geworden, als eine an sich nicht ungewöhnliche hysterische Erkrankung zu verdienen scheint. Aber die Darstellung des Falles war unmöglich ohne Eingehen ins Detail, und die Eigenthümlichkeiten desselben scheinen mir von einer Wichtigkeit, welche das ausführliche Referat entschuldigen dürfte. Auch die Echinodermeneier sind für die Embryologie nicht deshalb so wichtig, weil etwa der Seeigel ein besonders interessantes Thier wäre, sondern weil ihr Protoplasma durchsichtig ist, und man aus dem, was man an ihnen sehen kann, auf das schliesst, was an den Eiern mit trübem Plasma auch vorgehen dürfte. In der weitgehenden Durchsichtigkeit und Erklärbarkeit seiner Pathogenese scheint mir vor allem das Interesse dieses Falles zu liegen. Als disponirend zur hysterischen Erkrankung finden wir bei dem noch völlig gesunden Mädchen zwei psychische Eigenthümlichkeiten:

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/38>, abgerufen am 19.04.2024.