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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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Abend war durch "talking cure" ihre Sehstörung geschwunden und zwar auch für die condition seconde. Als sie nun Nachts erwachte, fand sie sich in einem ihr unbekannten Zimmer, denn die Familie hatte seit Frühjahr 1881 die Wohnung gewechselt. Diese recht unangenehmen Zufälle wurden verhindert, da ich ihr (auf ihre Bitte) Abends immer die Augen schloss mit der Suggestion, sie könne sie nicht öffnen, bis ich selbst es am Morgen thun würde. Nur einmal wiederholte sich der Lärm, als Patientin im Traum geweint und erwachend die Augen geöffnet hatte.

Da sich diese mühevolle Analyse der Symptome auf die Sommermonate 1880 bezog, während welcher sich die Erkrankung vorbereitete, gewann ich einen vollen Einblick in die Incubation und Pathogenese dieser Hysterie, die ich nun kurz darlegen will.

Juli 1880 war der Vater der Kranken auf dem Lande an einem subpleuralen Abcess schwer erkrankt; Anna theilte sich mit der Mutter in die Pflege. Einmal wachte sie Nachts in grosser Angst um den hochfiebernden Kranken und in Spannung, weil von Wien ein Chirurg zur Operation erwartet wurde. Die Mutter hatte sich für einige Zeit entfernt, und Anna sass am Krankenbette, den rechten Arm über die Stuhllehne gelegt. Sie gerieth in einen Zustand von Wachträumen und sah, wie von der Wand her eine schwarze Schlange sich dem Kranken näherte, um ihn zu beissen. (Es ist sehr wahrscheinlich, dass auf der Wiese hinter dem Hause wirklich einige Schlangen vorkamen, über die das Mädchen früher schon erschrocken war, und die nun das Material der Hallucination abgaben.) Sie wollte das Thier abwehren, war aber wie gelähmt; der rechte Arm, über der Stuhllehne hängend, war "eingeschlafen", anästhetisch und paretisch geworden, und als sie ihn betrachtete, verwandelten sich die Finger in kleine Schlangen mit Todtenköpfen (Nägel). Wahrscheinlich machte sie Versuche, die Schlange mit dem gelähmten rechten Arm zu verjagen, und dadurch trat die Anästhesie und Lähmung derselben in Association mit der Schlangenhallucination. - Als diese geschwunden war, wollte sie in ihrer Angst beten, aber jede Sprache versagte, sie konnte in keiner sprechen, bis sie endlich einen englischen Kindervers fand und nun auch in dieser Sprache fortdenken und beten konnte.

Der Pfiff der Locomotive, die den erwarteten Arzt brachte, unterbrach den Spuk. Aber als sie andern Tags einen Reifen aus dem Gebüsch nehmen wollte, in das er beim Spiel geworfen worden war, rief ein gebogener Zweig die Schlangenhallucination wieder hervor,

Abend war durch „talking cure“ ihre Sehstörung geschwunden und zwar auch für die condition seconde. Als sie nun Nachts erwachte, fand sie sich in einem ihr unbekannten Zimmer, denn die Familie hatte seit Frühjahr 1881 die Wohnung gewechselt. Diese recht unangenehmen Zufälle wurden verhindert, da ich ihr (auf ihre Bitte) Abends immer die Augen schloss mit der Suggestion, sie könne sie nicht öffnen, bis ich selbst es am Morgen thun würde. Nur einmal wiederholte sich der Lärm, als Patientin im Traum geweint und erwachend die Augen geöffnet hatte.

Da sich diese mühevolle Analyse der Symptome auf die Sommermonate 1880 bezog, während welcher sich die Erkrankung vorbereitete, gewann ich einen vollen Einblick in die Incubation und Pathogenese dieser Hysterie, die ich nun kurz darlegen will.

Juli 1880 war der Vater der Kranken auf dem Lande an einem subpleuralen Abcess schwer erkrankt; Anna theilte sich mit der Mutter in die Pflege. Einmal wachte sie Nachts in grosser Angst um den hochfiebernden Kranken und in Spannung, weil von Wien ein Chirurg zur Operation erwartet wurde. Die Mutter hatte sich für einige Zeit entfernt, und Anna sass am Krankenbette, den rechten Arm über die Stuhllehne gelegt. Sie gerieth in einen Zustand von Wachträumen und sah, wie von der Wand her eine schwarze Schlange sich dem Kranken näherte, um ihn zu beissen. (Es ist sehr wahrscheinlich, dass auf der Wiese hinter dem Hause wirklich einige Schlangen vorkamen, über die das Mädchen früher schon erschrocken war, und die nun das Material der Hallucination abgaben.) Sie wollte das Thier abwehren, war aber wie gelähmt; der rechte Arm, über der Stuhllehne hängend, war „eingeschlafen“, anästhetisch und paretisch geworden, und als sie ihn betrachtete, verwandelten sich die Finger in kleine Schlangen mit Todtenköpfen (Nägel). Wahrscheinlich machte sie Versuche, die Schlange mit dem gelähmten rechten Arm zu verjagen, und dadurch trat die Anästhesie und Lähmung derselben in Association mit der Schlangenhallucination. – Als diese geschwunden war, wollte sie in ihrer Angst beten, aber jede Sprache versagte, sie konnte in keiner sprechen, bis sie endlich einen englischen Kindervers fand und nun auch in dieser Sprache fortdenken und beten konnte.

Der Pfiff der Locomotive, die den erwarteten Arzt brachte, unterbrach den Spuk. Aber als sie andern Tags einen Reifen aus dem Gebüsch nehmen wollte, in das er beim Spiel geworfen worden war, rief ein gebogener Zweig die Schlangenhallucination wieder hervor,

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[30/0036] Abend war durch „talking cure“ ihre Sehstörung geschwunden und zwar auch für die condition seconde. Als sie nun Nachts erwachte, fand sie sich in einem ihr unbekannten Zimmer, denn die Familie hatte seit Frühjahr 1881 die Wohnung gewechselt. Diese recht unangenehmen Zufälle wurden verhindert, da ich ihr (auf ihre Bitte) Abends immer die Augen schloss mit der Suggestion, sie könne sie nicht öffnen, bis ich selbst es am Morgen thun würde. Nur einmal wiederholte sich der Lärm, als Patientin im Traum geweint und erwachend die Augen geöffnet hatte. Da sich diese mühevolle Analyse der Symptome auf die Sommermonate 1880 bezog, während welcher sich die Erkrankung vorbereitete, gewann ich einen vollen Einblick in die Incubation und Pathogenese dieser Hysterie, die ich nun kurz darlegen will. Juli 1880 war der Vater der Kranken auf dem Lande an einem subpleuralen Abcess schwer erkrankt; Anna theilte sich mit der Mutter in die Pflege. Einmal wachte sie Nachts in grosser Angst um den hochfiebernden Kranken und in Spannung, weil von Wien ein Chirurg zur Operation erwartet wurde. Die Mutter hatte sich für einige Zeit entfernt, und Anna sass am Krankenbette, den rechten Arm über die Stuhllehne gelegt. Sie gerieth in einen Zustand von Wachträumen und sah, wie von der Wand her eine schwarze Schlange sich dem Kranken näherte, um ihn zu beissen. (Es ist sehr wahrscheinlich, dass auf der Wiese hinter dem Hause wirklich einige Schlangen vorkamen, über die das Mädchen früher schon erschrocken war, und die nun das Material der Hallucination abgaben.) Sie wollte das Thier abwehren, war aber wie gelähmt; der rechte Arm, über der Stuhllehne hängend, war „eingeschlafen“, anästhetisch und paretisch geworden, und als sie ihn betrachtete, verwandelten sich die Finger in kleine Schlangen mit Todtenköpfen (Nägel). Wahrscheinlich machte sie Versuche, die Schlange mit dem gelähmten rechten Arm zu verjagen, und dadurch trat die Anästhesie und Lähmung derselben in Association mit der Schlangenhallucination. – Als diese geschwunden war, wollte sie in ihrer Angst beten, aber jede Sprache versagte, sie konnte in keiner sprechen, bis sie endlich einen englischen Kindervers fand und nun auch in dieser Sprache fortdenken und beten konnte. Der Pfiff der Locomotive, die den erwarteten Arzt brachte, unterbrach den Spuk. Aber als sie andern Tags einen Reifen aus dem Gebüsch nehmen wollte, in das er beim Spiel geworfen worden war, rief ein gebogener Zweig die Schlangenhallucination wieder hervor,

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/36>, abgerufen am 24.04.2024.