Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Frege, Gottlob: Über Sinn und Bedeutung. In: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, N. F., Bd. 100/1 (1892), S. 25-50.

Bild:
<< vorherige Seite

Über Sinn und Bedeutung.
Namens wird ja das Prädicat zu- oder abgesprochen. Wer eine
Bedeutung nicht anerkennt, der kann ihr ein Prädicat weder zu¬
noch absprechen. Nun wäre aber das Vordringen bis zur Be¬
deutung des Namens überflüssig; man könnte sich mit dem Sinne
begnügen, wenn man beim Gedanken stehen bleiben wollte. Käme
es nur auf den Sinn des Satzes, den Gedanken, an, so wäre es
unnöthig, sich um die Bedeutung eines Satztheils zu kümmern;
für den Sinn des Satzes kann ja nur der Sinn, nicht die Be¬
deutung dieses Theiles in Betracht kommen. Der Gedanke bleibt
derselbe, ob der Name "Odysseus" eine Bedeutung hat oder nicht.
Daß wir uns überhaupt um die Bedeutung eines Satztheils be¬
mühen, ist ein Zeichen dafür, daß wir auch für den Satz selbst
eine Bedeutung im Allgemeinen anerkennen und fordern. Der
Gedanke verliert für uns an Werth, sobald wir erkennen, daß zu
einem seiner Theile die Bedeutung fehlt. Wir sind also wohl be¬
rechtigt, uns nicht mit dem Sinne eines Satzes zu begnügen,
sondern auch nach seiner Bedeutung zu fragen. Warum wollen
wir denn aber, daß jeder Eigenname nicht nur einen Sinn, sondern
auch eine Bedeutung habe? Warum genügt uns der Gedanke
nicht? Weil und soweit es uns auf seinen Wahrheitswerth an¬
kommt. Nicht immer ist dies der Fall. Beim Anhören eines
Epos z. B. fesseln uns neben dem Wohlklange der Sprache allein
der Sinn der Sätze und die davon erweckten Vorstellungen und
Gefühle. Mit der Frage nach der Wahrheit würden wir den
Kunstgenuß verlassen und uns einer wissenschaftlichen Betrachtung
zuwenden. Daher ist es uns auch gleichgiltig, ob der Name
"Odysseus" z. B. eine Bedeutung habe, solange wir das Gedicht
als Kunstwerk aufnehmen*). Das Streben nach Wahrheit also
ist es, was uns überall vom Sinne zur Bedeutung vorzudringen
treibt.

Wir haben gesehn, daß zu einem Satze immer dann eine
Bedeutung zu suchen ist, wenn es auf die Bedeutung der Bestand¬
theile ankommt; und das ist immer dann und nur dann der Fall,
wenn wir nach dem Wahrheitswerthe fragen.

*) Es wäre wünschenswerth, für Zeichen, die nur einen Sinn haben
sollen, einen besondern Ausdruck zu haben. Nennen wir solche etwa Bilder,
so würden die Worte des Schauspielers auf der Bühne Bilder sein, ja der
Schauspieler selber wäre ein Bild.
Zeitschrift f. Philos. u. Philos. Kritik. 100. Bd. 3

Über Sinn und Bedeutung.
Namens wird ja das Prädicat zu- oder abgeſprochen. Wer eine
Bedeutung nicht anerkennt, der kann ihr ein Prädicat weder zu¬
noch abſprechen. Nun wäre aber das Vordringen bis zur Be¬
deutung des Namens überflüſſig; man könnte ſich mit dem Sinne
begnügen, wenn man beim Gedanken ſtehen bleiben wollte. Käme
es nur auf den Sinn des Satzes, den Gedanken, an, ſo wäre es
unnöthig, ſich um die Bedeutung eines Satztheils zu kümmern;
für den Sinn des Satzes kann ja nur der Sinn, nicht die Be¬
deutung dieſes Theiles in Betracht kommen. Der Gedanke bleibt
derſelbe, ob der Name „Odyſſeus“ eine Bedeutung hat oder nicht.
Daß wir uns überhaupt um die Bedeutung eines Satztheils be¬
mühen, iſt ein Zeichen dafür, daß wir auch für den Satz ſelbſt
eine Bedeutung im Allgemeinen anerkennen und fordern. Der
Gedanke verliert für uns an Werth, ſobald wir erkennen, daß zu
einem ſeiner Theile die Bedeutung fehlt. Wir ſind alſo wohl be¬
rechtigt, uns nicht mit dem Sinne eines Satzes zu begnügen,
ſondern auch nach ſeiner Bedeutung zu fragen. Warum wollen
wir denn aber, daß jeder Eigenname nicht nur einen Sinn, ſondern
auch eine Bedeutung habe? Warum genügt uns der Gedanke
nicht? Weil und ſoweit es uns auf ſeinen Wahrheitswerth an¬
kommt. Nicht immer iſt dies der Fall. Beim Anhören eines
Epos z. B. feſſeln uns neben dem Wohlklange der Sprache allein
der Sinn der Sätze und die davon erweckten Vorſtellungen und
Gefühle. Mit der Frage nach der Wahrheit würden wir den
Kunſtgenuß verlaſſen und uns einer wiſſenſchaftlichen Betrachtung
zuwenden. Daher iſt es uns auch gleichgiltig, ob der Name
„Odyſſeus” z. B. eine Bedeutung habe, ſolange wir das Gedicht
als Kunſtwerk aufnehmen*). Das Streben nach Wahrheit alſo
iſt es, was uns überall vom Sinne zur Bedeutung vorzudringen
treibt.

Wir haben geſehn, daß zu einem Satze immer dann eine
Bedeutung zu ſuchen iſt, wenn es auf die Bedeutung der Beſtand¬
theile ankommt; und das iſt immer dann und nur dann der Fall,
wenn wir nach dem Wahrheitswerthe fragen.

*) Es wäre wünſchenswerth, für Zeichen, die nur einen Sinn haben
ſollen, einen beſondern Ausdruck zu haben. Nennen wir ſolche etwa Bilder,
ſo würden die Worte des Schauſpielers auf der Bühne Bilder ſein, ja der
Schauſpieler ſelber wäre ein Bild.
Zeitſchrift f. Philoſ. u. Philoſ. Kritik. 100. Bd. 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0029" n="33"/><fw place="top" type="header">Über Sinn und Bedeutung.<lb/></fw> Namens wird ja das Prädicat zu- oder abge&#x017F;prochen. Wer eine<lb/>
Bedeutung nicht anerkennt, der kann ihr ein Prädicat weder zu¬<lb/>
noch ab&#x017F;prechen. Nun wäre aber das Vordringen bis zur Be¬<lb/>
deutung des Namens überflü&#x017F;&#x017F;ig; man könnte &#x017F;ich mit dem Sinne<lb/>
begnügen, wenn man beim Gedanken &#x017F;tehen bleiben wollte. Käme<lb/>
es nur auf den Sinn des Satzes, den Gedanken, an, &#x017F;o wäre es<lb/>
unnöthig, &#x017F;ich um die Bedeutung eines Satztheils zu kümmern;<lb/>
für den Sinn des Satzes kann ja nur der Sinn, nicht die Be¬<lb/>
deutung die&#x017F;es Theiles in Betracht kommen. Der Gedanke bleibt<lb/>
der&#x017F;elbe, ob der Name &#x201E;Ody&#x017F;&#x017F;eus&#x201C; eine Bedeutung hat oder nicht.<lb/>
Daß wir uns überhaupt um die Bedeutung eines Satztheils be¬<lb/>
mühen, i&#x017F;t ein Zeichen dafür, daß wir auch für den Satz &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
eine Bedeutung im Allgemeinen anerkennen und fordern. Der<lb/>
Gedanke verliert für uns an Werth, &#x017F;obald wir erkennen, daß zu<lb/>
einem &#x017F;einer Theile die Bedeutung fehlt. Wir &#x017F;ind al&#x017F;o wohl be¬<lb/>
rechtigt, uns nicht mit dem Sinne eines Satzes zu begnügen,<lb/>
&#x017F;ondern auch nach &#x017F;einer Bedeutung zu fragen. Warum wollen<lb/>
wir denn aber, daß jeder Eigenname nicht nur einen Sinn, &#x017F;ondern<lb/>
auch eine Bedeutung habe? Warum genügt uns der Gedanke<lb/>
nicht? Weil und &#x017F;oweit es uns auf &#x017F;einen Wahrheitswerth an¬<lb/>
kommt. Nicht immer i&#x017F;t dies der Fall. Beim Anhören eines<lb/>
Epos z. B. fe&#x017F;&#x017F;eln uns neben dem Wohlklange der Sprache allein<lb/>
der Sinn der Sätze und die davon erweckten Vor&#x017F;tellungen und<lb/>
Gefühle. Mit der Frage nach der Wahrheit würden wir den<lb/>
Kun&#x017F;tgenuß verla&#x017F;&#x017F;en und uns einer wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlichen Betrachtung<lb/>
zuwenden. Daher i&#x017F;t es uns auch gleichgiltig, ob der Name<lb/>
&#x201E;Ody&#x017F;&#x017F;eus&#x201D; z. B. eine Bedeutung habe, &#x017F;olange wir das Gedicht<lb/>
als Kun&#x017F;twerk aufnehmen<note place="foot" n="*)">Es wäre wün&#x017F;chenswerth, für Zeichen, die nur einen Sinn haben<lb/>
&#x017F;ollen, einen be&#x017F;ondern Ausdruck zu haben. Nennen wir &#x017F;olche etwa Bilder,<lb/>
&#x017F;o würden die Worte des Schau&#x017F;pielers auf der Bühne Bilder &#x017F;ein, ja der<lb/>
Schau&#x017F;pieler &#x017F;elber wäre ein Bild.</note>. Das Streben nach Wahrheit al&#x017F;o<lb/>
i&#x017F;t es, was uns überall vom Sinne zur Bedeutung vorzudringen<lb/>
treibt.</p><lb/>
        <p>Wir haben ge&#x017F;ehn, daß zu einem Satze immer dann eine<lb/>
Bedeutung zu &#x017F;uchen i&#x017F;t, wenn es auf die Bedeutung der Be&#x017F;tand¬<lb/>
theile ankommt; und das i&#x017F;t immer dann und nur dann der Fall,<lb/>
wenn wir nach dem Wahrheitswerthe fragen.</p><lb/>
        <fw place="bottom" type="sig">Zeit&#x017F;chrift f. Philo&#x017F;. u. Philo&#x017F;. Kritik. 100. Bd. 3<lb/></fw>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[33/0029] Über Sinn und Bedeutung. Namens wird ja das Prädicat zu- oder abgeſprochen. Wer eine Bedeutung nicht anerkennt, der kann ihr ein Prädicat weder zu¬ noch abſprechen. Nun wäre aber das Vordringen bis zur Be¬ deutung des Namens überflüſſig; man könnte ſich mit dem Sinne begnügen, wenn man beim Gedanken ſtehen bleiben wollte. Käme es nur auf den Sinn des Satzes, den Gedanken, an, ſo wäre es unnöthig, ſich um die Bedeutung eines Satztheils zu kümmern; für den Sinn des Satzes kann ja nur der Sinn, nicht die Be¬ deutung dieſes Theiles in Betracht kommen. Der Gedanke bleibt derſelbe, ob der Name „Odyſſeus“ eine Bedeutung hat oder nicht. Daß wir uns überhaupt um die Bedeutung eines Satztheils be¬ mühen, iſt ein Zeichen dafür, daß wir auch für den Satz ſelbſt eine Bedeutung im Allgemeinen anerkennen und fordern. Der Gedanke verliert für uns an Werth, ſobald wir erkennen, daß zu einem ſeiner Theile die Bedeutung fehlt. Wir ſind alſo wohl be¬ rechtigt, uns nicht mit dem Sinne eines Satzes zu begnügen, ſondern auch nach ſeiner Bedeutung zu fragen. Warum wollen wir denn aber, daß jeder Eigenname nicht nur einen Sinn, ſondern auch eine Bedeutung habe? Warum genügt uns der Gedanke nicht? Weil und ſoweit es uns auf ſeinen Wahrheitswerth an¬ kommt. Nicht immer iſt dies der Fall. Beim Anhören eines Epos z. B. feſſeln uns neben dem Wohlklange der Sprache allein der Sinn der Sätze und die davon erweckten Vorſtellungen und Gefühle. Mit der Frage nach der Wahrheit würden wir den Kunſtgenuß verlaſſen und uns einer wiſſenſchaftlichen Betrachtung zuwenden. Daher iſt es uns auch gleichgiltig, ob der Name „Odyſſeus” z. B. eine Bedeutung habe, ſolange wir das Gedicht als Kunſtwerk aufnehmen *). Das Streben nach Wahrheit alſo iſt es, was uns überall vom Sinne zur Bedeutung vorzudringen treibt. Wir haben geſehn, daß zu einem Satze immer dann eine Bedeutung zu ſuchen iſt, wenn es auf die Bedeutung der Beſtand¬ theile ankommt; und das iſt immer dann und nur dann der Fall, wenn wir nach dem Wahrheitswerthe fragen. *) Es wäre wünſchenswerth, für Zeichen, die nur einen Sinn haben ſollen, einen beſondern Ausdruck zu haben. Nennen wir ſolche etwa Bilder, ſo würden die Worte des Schauſpielers auf der Bühne Bilder ſein, ja der Schauſpieler ſelber wäre ein Bild. Zeitſchrift f. Philoſ. u. Philoſ. Kritik. 100. Bd. 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/frege_sinn_1892
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/frege_sinn_1892/29
Zitationshilfe: Frege, Gottlob: Über Sinn und Bedeutung. In: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, N. F., Bd. 100/1 (1892), S. 25-50, hier S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/frege_sinn_1892/29>, abgerufen am 20.04.2024.