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François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871.

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einzige Festtag auf Reckenburg fiel aus und niemals
wieder hat der Name des erkorenen und verlorenen
Erben der Greisin Lippen berührt. Sie dachte nicht
mehr an sterben und vererben. Existirte aus früherer
Zeit eine letztwillige Verfügung und zu wessen Gun¬
sten? Niemand wußte es. Die Testatorin aber würde
keinen Federstrich gethan haben, um sie zu widerrufen
oder umzuändern. Ein Mensch war ihr so gleich¬
gültig wie der andere; sie kannte keine Pflicht. Sie
wollte leben, nur leben. Die Ewigkeit würde ihr
nicht zu lang gedäucht haben, allein, neben ihrem
funkelnden Schatz. Kam es aber eines Tages zum
Ende, nun, wenn dann die Erde unter ihrem Gold¬
thurm sich geöffnet hätte, es würde ihr das rechte,
das willkommenste Ende gewesen sein.

Vierzehn Jahre noch, die letzten der Jugend, sind
mir hingegangen in Abhängigkeit von dieser Mumie
mit dem einen überlebenden Sinn; und sicherlich nicht
ohne haftende Spur. Wohl waren die Anlagen, die
wir weibliche nennen, von Haus aus nur schwächlich
in mir organisirt, die Stunden in dem Goldthurm
der Reckenburg aber; wenn auch nur wenige jeden
Tag und durch Arbeit gefüllt, sie haben in mir die
letzte Fähigkeit unterdrückt, einem häuslichen Leben die

einzige Feſttag auf Reckenburg fiel aus und niemals
wieder hat der Name des erkorenen und verlorenen
Erben der Greiſin Lippen berührt. Sie dachte nicht
mehr an ſterben und vererben. Exiſtirte aus früherer
Zeit eine letztwillige Verfügung und zu weſſen Gun¬
ſten? Niemand wußte es. Die Teſtatorin aber würde
keinen Federſtrich gethan haben, um ſie zu widerrufen
oder umzuändern. Ein Menſch war ihr ſo gleich¬
gültig wie der andere; ſie kannte keine Pflicht. Sie
wollte leben, nur leben. Die Ewigkeit würde ihr
nicht zu lang gedäucht haben, allein, neben ihrem
funkelnden Schatz. Kam es aber eines Tages zum
Ende, nun, wenn dann die Erde unter ihrem Gold¬
thurm ſich geöffnet hätte, es würde ihr das rechte,
das willkommenſte Ende geweſen ſein.

Vierzehn Jahre noch, die letzten der Jugend, ſind
mir hingegangen in Abhängigkeit von dieſer Mumie
mit dem einen überlebenden Sinn; und ſicherlich nicht
ohne haftende Spur. Wohl waren die Anlagen, die
wir weibliche nennen, von Haus aus nur ſchwächlich
in mir organiſirt, die Stunden in dem Goldthurm
der Reckenburg aber; wenn auch nur wenige jeden
Tag und durch Arbeit gefüllt, ſie haben in mir die
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[29/0033] einzige Feſttag auf Reckenburg fiel aus und niemals wieder hat der Name des erkorenen und verlorenen Erben der Greiſin Lippen berührt. Sie dachte nicht mehr an ſterben und vererben. Exiſtirte aus früherer Zeit eine letztwillige Verfügung und zu weſſen Gun¬ ſten? Niemand wußte es. Die Teſtatorin aber würde keinen Federſtrich gethan haben, um ſie zu widerrufen oder umzuändern. Ein Menſch war ihr ſo gleich¬ gültig wie der andere; ſie kannte keine Pflicht. Sie wollte leben, nur leben. Die Ewigkeit würde ihr nicht zu lang gedäucht haben, allein, neben ihrem funkelnden Schatz. Kam es aber eines Tages zum Ende, nun, wenn dann die Erde unter ihrem Gold¬ thurm ſich geöffnet hätte, es würde ihr das rechte, das willkommenſte Ende geweſen ſein. Vierzehn Jahre noch, die letzten der Jugend, ſind mir hingegangen in Abhängigkeit von dieſer Mumie mit dem einen überlebenden Sinn; und ſicherlich nicht ohne haftende Spur. Wohl waren die Anlagen, die wir weibliche nennen, von Haus aus nur ſchwächlich in mir organiſirt, die Stunden in dem Goldthurm der Reckenburg aber; wenn auch nur wenige jeden Tag und durch Arbeit gefüllt, ſie haben in mir die letzte Fähigkeit unterdrückt, einem häuslichen Leben die

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Zitationshilfe: François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin02_1871/33>, abgerufen am 29.03.2024.