Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871.

Bild:
<< vorherige Seite

Gatten frohen Muths zum gewohnten Frühgruß in
das Zimmer ihrer mütterlichen Freundin traten, fan¬
den sie dieselbe nicht wie alle Tage für ihren Ge¬
schäftsbetrieb gerüstet. Das Bett war unberührt, sie
selber aber saß im Nachtkleide zurückgesunken in dem
Lehnstuhle, der schon in ihrem Vaterhause gestanden hatte.
Auf dem Schreibtische vor ihr lag die alte Erbbibel
aufgeschlagen bei dem achten Capitel des Römerbriefes
und die Worte des vierzehnten Verses, "denn welche
der Geist Gottes treibt, die werden Gottes Kinder
heißen," waren sichtbarlich frisch unterstrichen. Neben
der Bibel aber fanden sie ein Manuscript, dessen
Aufschrift mit den gewohnten kräftigen Handzügen
lautete:

"Mein Geheimniß. Ohne Zeugen zu lesen von
Ludwig und Hardine Nordheim am Abend vor der
Eröffnung meines letzten Willens."

Erst spät in der Nacht schien das Siegel auf
diese Mittheilung gedrückt worden zu sein, denn die
Lackstange wie das Reckenburg'sche Wappen zeigten
Spuren des kürzlichen Gebrauchs und die einzige
Kerze, welche dem scharfen Auge und der schlichten
Gewöhnung der Matrone noch immer genügte, war
tief herabgebrannt. Noch hatte sie die Flamme sorg¬

Gatten frohen Muths zum gewohnten Frühgruß in
das Zimmer ihrer mütterlichen Freundin traten, fan¬
den ſie dieſelbe nicht wie alle Tage für ihren Ge¬
ſchäftsbetrieb gerüſtet. Das Bett war unberührt, ſie
ſelber aber ſaß im Nachtkleide zurückgeſunken in dem
Lehnſtuhle, der ſchon in ihrem Vaterhauſe geſtanden hatte.
Auf dem Schreibtiſche vor ihr lag die alte Erbbibel
aufgeſchlagen bei dem achten Capitel des Römerbriefes
und die Worte des vierzehnten Verſes, „denn welche
der Geiſt Gottes treibt, die werden Gottes Kinder
heißen,“ waren ſichtbarlich friſch unterſtrichen. Neben
der Bibel aber fanden ſie ein Manuſcript, deſſen
Aufſchrift mit den gewohnten kräftigen Handzügen
lautete:

„Mein Geheimniß. Ohne Zeugen zu leſen von
Ludwig und Hardine Nordheim am Abend vor der
Eröffnung meines letzten Willens.“

Erſt ſpät in der Nacht ſchien das Siegel auf
dieſe Mittheilung gedrückt worden zu ſein, denn die
Lackſtange wie das Reckenburg’ſche Wappen zeigten
Spuren des kürzlichen Gebrauchs und die einzige
Kerze, welche dem ſcharfen Auge und der ſchlichten
Gewöhnung der Matrone noch immer genügte, war
tief herabgebrannt. Noch hatte ſie die Flamme ſorg¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0233" n="229"/>
Gatten frohen Muths zum gewohnten Frühgruß in<lb/>
das Zimmer ihrer mütterlichen Freundin traten, fan¬<lb/>
den &#x017F;ie die&#x017F;elbe nicht wie alle Tage für ihren Ge¬<lb/>
&#x017F;chäftsbetrieb gerü&#x017F;tet. Das Bett war unberührt, &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;elber aber &#x017F;aß im Nachtkleide zurückge&#x017F;unken in dem<lb/>
Lehn&#x017F;tuhle, der &#x017F;chon in ihrem Vaterhau&#x017F;e ge&#x017F;tanden hatte.<lb/>
Auf dem Schreibti&#x017F;che vor ihr lag die alte Erbbibel<lb/>
aufge&#x017F;chlagen bei dem achten Capitel des Römerbriefes<lb/>
und die Worte des vierzehnten Ver&#x017F;es, &#x201E;denn welche<lb/>
der Gei&#x017F;t Gottes treibt, die werden Gottes Kinder<lb/>
heißen,&#x201C; waren &#x017F;ichtbarlich fri&#x017F;ch unter&#x017F;trichen. Neben<lb/>
der Bibel aber fanden &#x017F;ie ein Manu&#x017F;cript, de&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Auf&#x017F;chrift mit den gewohnten kräftigen Handzügen<lb/>
lautete:</p><lb/>
        <p>&#x201E;Mein Geheimniß. Ohne Zeugen zu le&#x017F;en von<lb/>
Ludwig und Hardine Nordheim am Abend vor der<lb/>
Eröffnung meines letzten Willens.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Er&#x017F;t &#x017F;pät in der Nacht &#x017F;chien das Siegel auf<lb/>
die&#x017F;e Mittheilung gedrückt worden zu &#x017F;ein, denn die<lb/>
Lack&#x017F;tange wie das Reckenburg&#x2019;&#x017F;che Wappen zeigten<lb/>
Spuren des kürzlichen Gebrauchs und die einzige<lb/>
Kerze, welche dem &#x017F;charfen Auge und der &#x017F;chlichten<lb/>
Gewöhnung der Matrone noch immer genügte, war<lb/>
tief herabgebrannt. Noch hatte &#x017F;ie die Flamme &#x017F;org¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[229/0233] Gatten frohen Muths zum gewohnten Frühgruß in das Zimmer ihrer mütterlichen Freundin traten, fan¬ den ſie dieſelbe nicht wie alle Tage für ihren Ge¬ ſchäftsbetrieb gerüſtet. Das Bett war unberührt, ſie ſelber aber ſaß im Nachtkleide zurückgeſunken in dem Lehnſtuhle, der ſchon in ihrem Vaterhauſe geſtanden hatte. Auf dem Schreibtiſche vor ihr lag die alte Erbbibel aufgeſchlagen bei dem achten Capitel des Römerbriefes und die Worte des vierzehnten Verſes, „denn welche der Geiſt Gottes treibt, die werden Gottes Kinder heißen,“ waren ſichtbarlich friſch unterſtrichen. Neben der Bibel aber fanden ſie ein Manuſcript, deſſen Aufſchrift mit den gewohnten kräftigen Handzügen lautete: „Mein Geheimniß. Ohne Zeugen zu leſen von Ludwig und Hardine Nordheim am Abend vor der Eröffnung meines letzten Willens.“ Erſt ſpät in der Nacht ſchien das Siegel auf dieſe Mittheilung gedrückt worden zu ſein, denn die Lackſtange wie das Reckenburg’ſche Wappen zeigten Spuren des kürzlichen Gebrauchs und die einzige Kerze, welche dem ſcharfen Auge und der ſchlichten Gewöhnung der Matrone noch immer genügte, war tief herabgebrannt. Noch hatte ſie die Flamme ſorg¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin02_1871
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin02_1871/233
Zitationshilfe: François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871, S. 229. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin02_1871/233>, abgerufen am 29.03.2024.