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François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871.

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dem gehaltenen Manne unangenehm befremdete. "Er
liegt im Wirthshause und simulirt eine Krankheit,"
rief er mir hastig entgegen.

"Er ist krank, Herr Graf," -- widersprach der
Prediger, -- "das Fieber schüttelt ihn." --

"Ein Katzenjammer, wenn nicht das Delirium
des Trunkenbolds!" entgegnete der Graf. "Ein Glück,
daß ich heute noch Landrath des Kreises heiße und
ihm seine Papiere abnehmen durfte. Lesen Sie,
Fräulein von Reckenburg!"

Er übergab mir bei diesen Worten jene mehrer¬
wähnten schriftlichen Kindheitserinnerungen August
Müllers, und erging sich, während ich die Blätter
überflog, mit zornigen Worten, über das Wirrsal von
Verleumdungen, welche sich seit dem Morgen in der Ge¬
meinde verbreitet hatten und über Nacht in der Um¬
gegend verbreiten mußten. "Ich werde," so schloß er,
"den Vagabonden unverweilt in das städtische Kranken¬
haus und nach seiner Herstellung, mittelst Zwangs¬
passes, über die Grenze transportiren lassen. Der
kürzeste Weg, das Gerede abzuschneiden. Der Mensch
ist verrückt, oder ein Betrüger erster Sorte." "Er ist
keines von beiden," versetzte ich ruhig, indem ich die
Handschrift, nebst den beiliegenden Attesten in meinem

dem gehaltenen Manne unangenehm befremdete. „Er
liegt im Wirthshauſe und ſimulirt eine Krankheit,“
rief er mir haſtig entgegen.

„Er iſt krank, Herr Graf,“ — widerſprach der
Prediger, — „das Fieber ſchüttelt ihn.“ —

„Ein Katzenjammer, wenn nicht das Delirium
des Trunkenbolds!“ entgegnete der Graf. „Ein Glück,
daß ich heute noch Landrath des Kreiſes heiße und
ihm ſeine Papiere abnehmen durfte. Leſen Sie,
Fräulein von Reckenburg!“

Er übergab mir bei dieſen Worten jene mehrer¬
wähnten ſchriftlichen Kindheitserinnerungen Auguſt
Müllers, und erging ſich, während ich die Blätter
überflog, mit zornigen Worten, über das Wirrſal von
Verleumdungen, welche ſich ſeit dem Morgen in der Ge¬
meinde verbreitet hatten und über Nacht in der Um¬
gegend verbreiten mußten. „Ich werde,“ ſo ſchloß er,
„den Vagabonden unverweilt in das ſtädtiſche Kranken¬
haus und nach ſeiner Herſtellung, mittelſt Zwangs¬
paſſes, über die Grenze transportiren laſſen. Der
kürzeſte Weg, das Gerede abzuſchneiden. Der Menſch
iſt verrückt, oder ein Betrüger erſter Sorte.“ „Er iſt
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[185/0189] dem gehaltenen Manne unangenehm befremdete. „Er liegt im Wirthshauſe und ſimulirt eine Krankheit,“ rief er mir haſtig entgegen. „Er iſt krank, Herr Graf,“ — widerſprach der Prediger, — „das Fieber ſchüttelt ihn.“ — „Ein Katzenjammer, wenn nicht das Delirium des Trunkenbolds!“ entgegnete der Graf. „Ein Glück, daß ich heute noch Landrath des Kreiſes heiße und ihm ſeine Papiere abnehmen durfte. Leſen Sie, Fräulein von Reckenburg!“ Er übergab mir bei dieſen Worten jene mehrer¬ wähnten ſchriftlichen Kindheitserinnerungen Auguſt Müllers, und erging ſich, während ich die Blätter überflog, mit zornigen Worten, über das Wirrſal von Verleumdungen, welche ſich ſeit dem Morgen in der Ge¬ meinde verbreitet hatten und über Nacht in der Um¬ gegend verbreiten mußten. „Ich werde,“ ſo ſchloß er, „den Vagabonden unverweilt in das ſtädtiſche Kranken¬ haus und nach ſeiner Herſtellung, mittelſt Zwangs¬ paſſes, über die Grenze transportiren laſſen. Der kürzeſte Weg, das Gerede abzuſchneiden. Der Menſch iſt verrückt, oder ein Betrüger erſter Sorte.“ „Er iſt keines von beiden,“ verſetzte ich ruhig, indem ich die Handſchrift, nebſt den beiliegenden Atteſten in meinem

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Zitationshilfe: François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871, S. 185. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin02_1871/189>, abgerufen am 20.04.2024.