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François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871.

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tretende Gestalt hatte das kranke, weissagende Herz
gebrochen. Ohne Zögern wurden die Mittel ange¬
wendet, die bei schlagartigen Lähmungen geboten sind;
sie fristeten das leibliche Leben auf unberechenbare
Zeit, das der Seele war todt und blieb es. Die un¬
glückliche Frau hat keinen Laut mehr vernehmen las¬
sen, und, ich hoffe es, keinen unserer Schmerzenslaute
mehr vernommen.

Das ist der wühlendste Schmerz, welchen eine
gleich große Sorge im Banne hält. Die lange Nacht
hindurch saß ich, und zählte mechanisch die matten
Schläge des Pulses, der jeden Augenblick erlöschen
konnte. Mit grauendem Tage drängten sich Theilneh¬
mende und Neugierige herbei; ich sah und hörte sie
kaum. Ich saß starr und stumm.

Aus diesem betäubten Zustande sollte ich erlöst
werden durch eine Freundesthat, die wie keine andere,
vorher und späterhin, mein Herz gerührt hat. Was
es heißt, Treue zu ernten, wo die Väter Liebe ge¬
säet, ich hätte es in diesen Tagen lernen können. Und
doch habe ich zwanzig Jahre nach ihnen hingelebt,
ohne ein gleiches Samenkorn auszustreuen. Freilich
hatte ich keinen Erben, dem es Frucht getragen haben
würde.

tretende Geſtalt hatte das kranke, weiſſagende Herz
gebrochen. Ohne Zögern wurden die Mittel ange¬
wendet, die bei ſchlagartigen Lähmungen geboten ſind;
ſie friſteten das leibliche Leben auf unberechenbare
Zeit, das der Seele war todt und blieb es. Die un¬
glückliche Frau hat keinen Laut mehr vernehmen laſ¬
ſen, und, ich hoffe es, keinen unſerer Schmerzenslaute
mehr vernommen.

Das iſt der wühlendſte Schmerz, welchen eine
gleich große Sorge im Banne hält. Die lange Nacht
hindurch ſaß ich, und zählte mechaniſch die matten
Schläge des Pulſes, der jeden Augenblick erlöſchen
konnte. Mit grauendem Tage drängten ſich Theilneh¬
mende und Neugierige herbei; ich ſah und hörte ſie
kaum. Ich ſaß ſtarr und ſtumm.

Aus dieſem betäubten Zuſtande ſollte ich erlöſt
werden durch eine Freundesthat, die wie keine andere,
vorher und ſpäterhin, mein Herz gerührt hat. Was
es heißt, Treue zu ernten, wo die Väter Liebe ge¬
ſäet, ich hätte es in dieſen Tagen lernen können. Und
doch habe ich zwanzig Jahre nach ihnen hingelebt,
ohne ein gleiches Samenkorn auszuſtreuen. Freilich
hatte ich keinen Erben, dem es Frucht getragen haben
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[123/0127] tretende Geſtalt hatte das kranke, weiſſagende Herz gebrochen. Ohne Zögern wurden die Mittel ange¬ wendet, die bei ſchlagartigen Lähmungen geboten ſind; ſie friſteten das leibliche Leben auf unberechenbare Zeit, das der Seele war todt und blieb es. Die un¬ glückliche Frau hat keinen Laut mehr vernehmen laſ¬ ſen, und, ich hoffe es, keinen unſerer Schmerzenslaute mehr vernommen. Das iſt der wühlendſte Schmerz, welchen eine gleich große Sorge im Banne hält. Die lange Nacht hindurch ſaß ich, und zählte mechaniſch die matten Schläge des Pulſes, der jeden Augenblick erlöſchen konnte. Mit grauendem Tage drängten ſich Theilneh¬ mende und Neugierige herbei; ich ſah und hörte ſie kaum. Ich ſaß ſtarr und ſtumm. Aus dieſem betäubten Zuſtande ſollte ich erlöſt werden durch eine Freundesthat, die wie keine andere, vorher und ſpäterhin, mein Herz gerührt hat. Was es heißt, Treue zu ernten, wo die Väter Liebe ge¬ ſäet, ich hätte es in dieſen Tagen lernen können. Und doch habe ich zwanzig Jahre nach ihnen hingelebt, ohne ein gleiches Samenkorn auszuſtreuen. Freilich hatte ich keinen Erben, dem es Frucht getragen haben würde.

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Zitationshilfe: François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin02_1871/127>, abgerufen am 25.04.2024.