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François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871.

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ich des Knaben stürmischer, schwer zu zähmender Na¬
tur; er wurde mir zum Wildling Muhme Justinens;
zu dem verlorenen Kinde der Sünde und vergeblich
suchte der alte Freund aufzuklären und zu entschul¬
digen. "Er lügt niemals und er ist beherzt vor allen
Anderen," sagte der Freund; ich aber sagte: "Er ist
eine Range vor allen Anderen," und wenn August
Müller zwanzig Jahre später erzählt hat, daß das
Bild Fräulein Hardinens sich ihm durch eine drastische
Manipulation eingeprägt habe, so erinnere ich mich
dieser Thatsache wahrscheinlich nur darum nicht, weil
mir nicht einmal, sondern hundertmal zu solchem Cor¬
rectiv die Hände zuckten.

Alles war mir verleidet; alles vergällt, zumeist
der Aufenthalt im Elternhause. Denn das Haus war
die Stätte des Verraths, der mich mein Selbstgefühl
gekostet hatte und vor den ehrlichen Augen der Eltern,
die nur durch meine Schuld Mitschuldige an demselben
geworden waren, konnte ich nicht bestehen. Ich lang¬
weilte mich in dem ohne mich ausgefüllten häuslichen
Getriebe und der gesellschaftlichen Plattheit hatte
ich mich in dem freien, ländlichen Wesen meiner
Reckenburg bis zum Widerwillen entwöhnt. Denn die
Natur, auch in ihrer einfachsten Form, spricht immer

ich des Knaben ſtürmiſcher, ſchwer zu zähmender Na¬
tur; er wurde mir zum Wildling Muhme Juſtinens;
zu dem verlorenen Kinde der Sünde und vergeblich
ſuchte der alte Freund aufzuklären und zu entſchul¬
digen. „Er lügt niemals und er iſt beherzt vor allen
Anderen,“ ſagte der Freund; ich aber ſagte: „Er iſt
eine Range vor allen Anderen,“ und wenn Auguſt
Müller zwanzig Jahre ſpäter erzählt hat, daß das
Bild Fräulein Hardinens ſich ihm durch eine draſtiſche
Manipulation eingeprägt habe, ſo erinnere ich mich
dieſer Thatſache wahrſcheinlich nur darum nicht, weil
mir nicht einmal, ſondern hundertmal zu ſolchem Cor¬
rectiv die Hände zuckten.

Alles war mir verleidet; alles vergällt, zumeiſt
der Aufenthalt im Elternhauſe. Denn das Haus war
die Stätte des Verraths, der mich mein Selbſtgefühl
gekoſtet hatte und vor den ehrlichen Augen der Eltern,
die nur durch meine Schuld Mitſchuldige an demſelben
geworden waren, konnte ich nicht beſtehen. Ich lang¬
weilte mich in dem ohne mich ausgefüllten häuslichen
Getriebe und der geſellſchaftlichen Plattheit hatte
ich mich in dem freien, ländlichen Weſen meiner
Reckenburg bis zum Widerwillen entwöhnt. Denn die
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[110/0114] ich des Knaben ſtürmiſcher, ſchwer zu zähmender Na¬ tur; er wurde mir zum Wildling Muhme Juſtinens; zu dem verlorenen Kinde der Sünde und vergeblich ſuchte der alte Freund aufzuklären und zu entſchul¬ digen. „Er lügt niemals und er iſt beherzt vor allen Anderen,“ ſagte der Freund; ich aber ſagte: „Er iſt eine Range vor allen Anderen,“ und wenn Auguſt Müller zwanzig Jahre ſpäter erzählt hat, daß das Bild Fräulein Hardinens ſich ihm durch eine draſtiſche Manipulation eingeprägt habe, ſo erinnere ich mich dieſer Thatſache wahrſcheinlich nur darum nicht, weil mir nicht einmal, ſondern hundertmal zu ſolchem Cor¬ rectiv die Hände zuckten. Alles war mir verleidet; alles vergällt, zumeiſt der Aufenthalt im Elternhauſe. Denn das Haus war die Stätte des Verraths, der mich mein Selbſtgefühl gekoſtet hatte und vor den ehrlichen Augen der Eltern, die nur durch meine Schuld Mitſchuldige an demſelben geworden waren, konnte ich nicht beſtehen. Ich lang¬ weilte mich in dem ohne mich ausgefüllten häuslichen Getriebe und der geſellſchaftlichen Plattheit hatte ich mich in dem freien, ländlichen Weſen meiner Reckenburg bis zum Widerwillen entwöhnt. Denn die Natur, auch in ihrer einfachſten Form, ſpricht immer

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Zitationshilfe: François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin02_1871/114>, abgerufen am 29.03.2024.