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Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Bd. 3: Ost-Havelland. Berlin, 1873.

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Zuerst ein Wort über die Wenden überhaupt. Sie
bildeten den am meisten nach Westen vorgeschobenen Stamm
der großen slavischen Völkerfamilie; hinter ihnen nach Osten
und Südosten saßen die Polen, die Südslaven, die Groß- und
Klein-Russen.

Die Wenden rückten, etwa um 500, in die halb entvöl-
kerten Lande zwischen Oder und Elbe ein. Sie fanden hier noch
die zurückgebliebenen Reste der alten Semnonen, jenes ger-
manischen
Stammes, der vor ihnen das Land zwischen Elbe
und Oder inne gehabt und es -- entweder einem Drucke von
Osten her nachgebend, oder aber durch Abenteuerdrang dazu
getrieben -- im Laufe des 5. Jahrhunderts verlassen hatte.
Nicht alle indeß, so scheint es, hatten sich diesem Wanderzuge
angeschlossen; Greise, Weiber, Kinder, dazu alles, was wir
heute als "Invalide" bezeichnen würden, war zurückgeblieben,
und alle diese Reste ehemaligen germanischen Lebens kamen nun-
mehr in Abhängigkeit von den vordringenden Wenden. Diese
wurden der herrschende Stamm und gaben dem Lande sein
Gepräge, den Dingen und Ortschaften ihre wendischen Namen.
Als nach drei-, vier- und fünfhundert Jahren die Deutschen
zum ersten Mal wieder mit diesem Lande "zwischen Elbe und
Oder" in Berührung kamen, fanden sie, wenige Spuren ehe-
maligen deutschen Lebens abgerechnet, ein völlig slavisches d. h.
wendisches Land vor.

Das Land zwischen Elbe und Oder war wendisch gewor-
den, ebenso die Territorien zwischen Oder und Weichsel. Aber
das westliche Wendenland war doch die Hauptsache. Hier,
zwischen Oder und Elbe, standen die berühmtesten Tempel, hier
wurden die Entscheidungsschlachten geschlagen; hier endlich wohn-
ten die tapfersten und die mächtigsten Stämme.

Dieser Stämme, wenn wir von kleineren Gemeinschaften
vorläufig absehn, waren drei: die Obotriten im heutigen
Mecklenburg, die Liutizen in Mark und Vorpommern, die
Sorben oder Serben im Meißnischen und der Lausitz.

Zuerſt ein Wort über die Wenden überhaupt. Sie
bildeten den am meiſten nach Weſten vorgeſchobenen Stamm
der großen ſlaviſchen Völkerfamilie; hinter ihnen nach Oſten
und Südoſten ſaßen die Polen, die Südſlaven, die Groß- und
Klein-Ruſſen.

Die Wenden rückten, etwa um 500, in die halb entvöl-
kerten Lande zwiſchen Oder und Elbe ein. Sie fanden hier noch
die zurückgebliebenen Reſte der alten Semnonen, jenes ger-
maniſchen
Stammes, der vor ihnen das Land zwiſchen Elbe
und Oder inne gehabt und es — entweder einem Drucke von
Oſten her nachgebend, oder aber durch Abenteuerdrang dazu
getrieben — im Laufe des 5. Jahrhunderts verlaſſen hatte.
Nicht alle indeß, ſo ſcheint es, hatten ſich dieſem Wanderzuge
angeſchloſſen; Greiſe, Weiber, Kinder, dazu alles, was wir
heute als „Invalide“ bezeichnen würden, war zurückgeblieben,
und alle dieſe Reſte ehemaligen germaniſchen Lebens kamen nun-
mehr in Abhängigkeit von den vordringenden Wenden. Dieſe
wurden der herrſchende Stamm und gaben dem Lande ſein
Gepräge, den Dingen und Ortſchaften ihre wendiſchen Namen.
Als nach drei-, vier- und fünfhundert Jahren die Deutſchen
zum erſten Mal wieder mit dieſem Lande „zwiſchen Elbe und
Oder“ in Berührung kamen, fanden ſie, wenige Spuren ehe-
maligen deutſchen Lebens abgerechnet, ein völlig ſlaviſches d. h.
wendiſches Land vor.

Das Land zwiſchen Elbe und Oder war wendiſch gewor-
den, ebenſo die Territorien zwiſchen Oder und Weichſel. Aber
das weſtliche Wendenland war doch die Hauptſache. Hier,
zwiſchen Oder und Elbe, ſtanden die berühmteſten Tempel, hier
wurden die Entſcheidungsſchlachten geſchlagen; hier endlich wohn-
ten die tapferſten und die mächtigſten Stämme.

Dieſer Stämme, wenn wir von kleineren Gemeinſchaften
vorläufig abſehn, waren drei: die Obotriten im heutigen
Mecklenburg, die Liutizen in Mark und Vorpommern, die
Sorben oder Serben im Meißniſchen und der Lauſitz.

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[6/0024] Zuerſt ein Wort über die Wenden überhaupt. Sie bildeten den am meiſten nach Weſten vorgeſchobenen Stamm der großen ſlaviſchen Völkerfamilie; hinter ihnen nach Oſten und Südoſten ſaßen die Polen, die Südſlaven, die Groß- und Klein-Ruſſen. Die Wenden rückten, etwa um 500, in die halb entvöl- kerten Lande zwiſchen Oder und Elbe ein. Sie fanden hier noch die zurückgebliebenen Reſte der alten Semnonen, jenes ger- maniſchen Stammes, der vor ihnen das Land zwiſchen Elbe und Oder inne gehabt und es — entweder einem Drucke von Oſten her nachgebend, oder aber durch Abenteuerdrang dazu getrieben — im Laufe des 5. Jahrhunderts verlaſſen hatte. Nicht alle indeß, ſo ſcheint es, hatten ſich dieſem Wanderzuge angeſchloſſen; Greiſe, Weiber, Kinder, dazu alles, was wir heute als „Invalide“ bezeichnen würden, war zurückgeblieben, und alle dieſe Reſte ehemaligen germaniſchen Lebens kamen nun- mehr in Abhängigkeit von den vordringenden Wenden. Dieſe wurden der herrſchende Stamm und gaben dem Lande ſein Gepräge, den Dingen und Ortſchaften ihre wendiſchen Namen. Als nach drei-, vier- und fünfhundert Jahren die Deutſchen zum erſten Mal wieder mit dieſem Lande „zwiſchen Elbe und Oder“ in Berührung kamen, fanden ſie, wenige Spuren ehe- maligen deutſchen Lebens abgerechnet, ein völlig ſlaviſches d. h. wendiſches Land vor. Das Land zwiſchen Elbe und Oder war wendiſch gewor- den, ebenſo die Territorien zwiſchen Oder und Weichſel. Aber das weſtliche Wendenland war doch die Hauptſache. Hier, zwiſchen Oder und Elbe, ſtanden die berühmteſten Tempel, hier wurden die Entſcheidungsſchlachten geſchlagen; hier endlich wohn- ten die tapferſten und die mächtigſten Stämme. Dieſer Stämme, wenn wir von kleineren Gemeinſchaften vorläufig abſehn, waren drei: die Obotriten im heutigen Mecklenburg, die Liutizen in Mark und Vorpommern, die Sorben oder Serben im Meißniſchen und der Lauſitz.

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Zitationshilfe: Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Bd. 3: Ost-Havelland. Berlin, 1873, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_brandenburg03_1873/24>, abgerufen am 28.03.2024.