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[Fischer, Caroline Auguste]: Mährchen, In: Journal der Romane. St. 10. Berlin, 1802.

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dinge zu krönen, saß oben in dem kleinsten
Gemache, unmittelbar unter der goldenen
Kuppel, einsam eine weibliche Gestalt, die
nicht ganz jenen unverhüllten Grazien
glich, denn außer dem schönen, blendenden
Halse, und dem jugendlichen Busen, die
nur ein dünner Flor zu decken schien, und
außer den weissen schwellenden Armen war
sie in dichte und faltige Gewänder gehüllt.
Wäre nur auch der Kopf nicht ohne Schleier
geblieben: so hätte die Phantasie Freiheit
behalten, sich die ganze Gestalt so reizend
auszubilden, als es ihr beliebte, wozu ihr
die Bewohnerinnen der unteren Gemächer
die lieblichsten Modelle lieferten. Aber
grade der Kopf war unverschleiert, um --
das große Straußenei mit der Larve sehen
zu lassen.

Die trauernde Gestalt heftete ihre Blicke
unverwandt auf eine Stelle ihres Gemaches,

dinge zu kroͤnen, ſaß oben in dem kleinſten
Gemache, unmittelbar unter der goldenen
Kuppel, einſam eine weibliche Geſtalt, die
nicht ganz jenen unverhuͤllten Grazien
glich, denn außer dem ſchoͤnen, blendenden
Halſe, und dem jugendlichen Buſen, die
nur ein duͤnner Flor zu decken ſchien, und
außer den weiſſen ſchwellenden Armen war
ſie in dichte und faltige Gewaͤnder gehuͤllt.
Waͤre nur auch der Kopf nicht ohne Schleier
geblieben: ſo haͤtte die Phantaſie Freiheit
behalten, ſich die ganze Geſtalt ſo reizend
auszubilden, als es ihr beliebte, wozu ihr
die Bewohnerinnen der unteren Gemaͤcher
die lieblichſten Modelle lieferten. Aber
grade der Kopf war unverſchleiert, um —
das große Straußenei mit der Larve ſehen
zu laſſen.

Die trauernde Geſtalt heftete ihre Blicke
unverwandt auf eine Stelle ihres Gemaches,

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[182/0186] dinge zu kroͤnen, ſaß oben in dem kleinſten Gemache, unmittelbar unter der goldenen Kuppel, einſam eine weibliche Geſtalt, die nicht ganz jenen unverhuͤllten Grazien glich, denn außer dem ſchoͤnen, blendenden Halſe, und dem jugendlichen Buſen, die nur ein duͤnner Flor zu decken ſchien, und außer den weiſſen ſchwellenden Armen war ſie in dichte und faltige Gewaͤnder gehuͤllt. Waͤre nur auch der Kopf nicht ohne Schleier geblieben: ſo haͤtte die Phantaſie Freiheit behalten, ſich die ganze Geſtalt ſo reizend auszubilden, als es ihr beliebte, wozu ihr die Bewohnerinnen der unteren Gemaͤcher die lieblichſten Modelle lieferten. Aber grade der Kopf war unverſchleiert, um — das große Straußenei mit der Larve ſehen zu laſſen. Die trauernde Geſtalt heftete ihre Blicke unverwandt auf eine Stelle ihres Gemaches,

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Zitationshilfe: [Fischer, Caroline Auguste]: Mährchen, In: Journal der Romane. St. 10. Berlin, 1802, S. 182. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fischer_maehrchen_1802/186>, abgerufen am 28.03.2024.