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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

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für Andere ein Leben von Jahren. Das Blatt, auf dem die
Raupe lebt, ist für sie eine Welt, ein unendlicher Raum.

Was ein Wesen zu dem macht, was es ist, das ist eben
sein Talent, sein Vermögen, sein Reichthum, sein Schmuck.
Wie wäre es möglich, sein Sein als Nichtsein, seinen Reich-
thum als Mangel, sein Talent als Unvermögen zu gewahren?
Hätten die Pflanzen Augen, Geschmack und Urtheilskraft --
jede Pflanze würde ihre Blume für die schönste erklären; denn
ihr Verstand, ihr Geschmack würde nicht weiter reichen als
ihre producirende Wesenskraft. Was die producirende We-
senskraft als das Höchste hervorbrächte, das müßte auch ihr
Geschmack, ihre Urtheilskraft als das Höchste bekräftigen, an-
erkennen. Was das Wesen bejaht, kann der Verstand,
der Geschmack, das Urtheil nicht verneinen; sonst wäre der
Verstand, die Urtheilskraft nicht mehr der Verstand, die Ur-
theilskraft dieses bestimmten, sondern irgend eines andern We-
sens. Das Maaß des Wesens ist auch das Maaß des
Verstandes
. Ist das Wesen beschränkt, so ist auch das Ge-
fühl, auch der Verstand beschränkt. Aber einem beschränkten
Wesen ist sein beschränkter Verstand keine Schranke; es ist viel-
mehr vollkommen glücklich und befriedigt mit demselben; es
empfindet ihn, es lobt und preist ihn als eine herrliche, gött-
liche Kraft; und der beschränkte Verstand preist seinerseits wie-
der das beschränkte Wesen, dessen Verstand er ist. Beide pas-
sen aufs genauste zusammen; wie sollten sie mit einander zerfal-
len können? Der Verstand ist der Gesichtskreis eines Wesens.
So weit Du siehst, so weit erstreckt sich Dein Wesen, und um-
gekehrt. Das Auge des Thieres reicht nicht weiter, als sein Be-
dürfniß, und sein Wesen nicht weiter, als sein Bedürfniß.
Und so weit Dein Wesen, so weit reicht Dein unbeschränk-

für Andere ein Leben von Jahren. Das Blatt, auf dem die
Raupe lebt, iſt für ſie eine Welt, ein unendlicher Raum.

Was ein Weſen zu dem macht, was es iſt, das iſt eben
ſein Talent, ſein Vermögen, ſein Reichthum, ſein Schmuck.
Wie wäre es möglich, ſein Sein als Nichtſein, ſeinen Reich-
thum als Mangel, ſein Talent als Unvermögen zu gewahren?
Hätten die Pflanzen Augen, Geſchmack und Urtheilskraft —
jede Pflanze würde ihre Blume für die ſchönſte erklären; denn
ihr Verſtand, ihr Geſchmack würde nicht weiter reichen als
ihre producirende Weſenskraft. Was die producirende We-
ſenskraft als das Höchſte hervorbrächte, das müßte auch ihr
Geſchmack, ihre Urtheilskraft als das Höchſte bekräftigen, an-
erkennen. Was das Weſen bejaht, kann der Verſtand,
der Geſchmack, das Urtheil nicht verneinen; ſonſt wäre der
Verſtand, die Urtheilskraft nicht mehr der Verſtand, die Ur-
theilskraft dieſes beſtimmten, ſondern irgend eines andern We-
ſens. Das Maaß des Weſens iſt auch das Maaß des
Verſtandes
. Iſt das Weſen beſchränkt, ſo iſt auch das Ge-
fühl, auch der Verſtand beſchränkt. Aber einem beſchränkten
Weſen iſt ſein beſchränkter Verſtand keine Schranke; es iſt viel-
mehr vollkommen glücklich und befriedigt mit demſelben; es
empfindet ihn, es lobt und preiſt ihn als eine herrliche, gött-
liche Kraft; und der beſchränkte Verſtand preiſt ſeinerſeits wie-
der das beſchränkte Weſen, deſſen Verſtand er iſt. Beide paſ-
ſen aufs genauſte zuſammen; wie ſollten ſie mit einander zerfal-
len können? Der Verſtand iſt der Geſichtskreis eines Weſens.
So weit Du ſiehſt, ſo weit erſtreckt ſich Dein Weſen, und um-
gekehrt. Das Auge des Thieres reicht nicht weiter, als ſein Be-
dürfniß, und ſein Weſen nicht weiter, als ſein Bedürfniß.
Und ſo weit Dein Weſen, ſo weit reicht Dein unbeſchränk-

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[11/0029] für Andere ein Leben von Jahren. Das Blatt, auf dem die Raupe lebt, iſt für ſie eine Welt, ein unendlicher Raum. Was ein Weſen zu dem macht, was es iſt, das iſt eben ſein Talent, ſein Vermögen, ſein Reichthum, ſein Schmuck. Wie wäre es möglich, ſein Sein als Nichtſein, ſeinen Reich- thum als Mangel, ſein Talent als Unvermögen zu gewahren? Hätten die Pflanzen Augen, Geſchmack und Urtheilskraft — jede Pflanze würde ihre Blume für die ſchönſte erklären; denn ihr Verſtand, ihr Geſchmack würde nicht weiter reichen als ihre producirende Weſenskraft. Was die producirende We- ſenskraft als das Höchſte hervorbrächte, das müßte auch ihr Geſchmack, ihre Urtheilskraft als das Höchſte bekräftigen, an- erkennen. Was das Weſen bejaht, kann der Verſtand, der Geſchmack, das Urtheil nicht verneinen; ſonſt wäre der Verſtand, die Urtheilskraft nicht mehr der Verſtand, die Ur- theilskraft dieſes beſtimmten, ſondern irgend eines andern We- ſens. Das Maaß des Weſens iſt auch das Maaß des Verſtandes. Iſt das Weſen beſchränkt, ſo iſt auch das Ge- fühl, auch der Verſtand beſchränkt. Aber einem beſchränkten Weſen iſt ſein beſchränkter Verſtand keine Schranke; es iſt viel- mehr vollkommen glücklich und befriedigt mit demſelben; es empfindet ihn, es lobt und preiſt ihn als eine herrliche, gött- liche Kraft; und der beſchränkte Verſtand preiſt ſeinerſeits wie- der das beſchränkte Weſen, deſſen Verſtand er iſt. Beide paſ- ſen aufs genauſte zuſammen; wie ſollten ſie mit einander zerfal- len können? Der Verſtand iſt der Geſichtskreis eines Weſens. So weit Du ſiehſt, ſo weit erſtreckt ſich Dein Weſen, und um- gekehrt. Das Auge des Thieres reicht nicht weiter, als ſein Be- dürfniß, und ſein Weſen nicht weiter, als ſein Bedürfniß. Und ſo weit Dein Weſen, ſo weit reicht Dein unbeſchränk-

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Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/29>, abgerufen am 29.03.2024.