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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

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Wesen, denn die Schranke des Wesens ist auch die
Schranke des Bewußtseins. Das Bewußtsein der Raupe,
deren Leben und Wesen auf eine bestimmte Pflanzenspecies
eingeschränkt ist, erstreckt sich auch nicht über dieses beschränkte
Gebiet hinaus. Sie unterscheidet wohl diese Pflanze von an-
dern Pflanzen, aber mehr weiß sie nicht. Solches beschränk-
tes, aber eben wegen seiner Beschränktheit infallibles, untrüg-
liches Bewußtsein nennen wir darum auch nicht Bewußtsein,
sondern Instinkt. Bewußtsein im strengen oder eigentlichen
Sinne und Bewußtsein des Unendlichen ist identisch.
Beschränktes
Bewußtsein ist kein Bewußtsein; das Bewußt-
sein ist wesentlich unendlicher Natur*). Das Bewußtsein des
Unendlichen ist nichts andres als das Bewußtsein von der
Unendlichkeit des Bewußtseins. Oder: im Bewußtsein
des Unendlichen ist dem Bewußten nur die Unendlichkeit
des eignen Wesens Gegenstand
.**)

Aber was ist denn das Wesen des Menschen, dessen er
sich bewußt ist, oder was constituirt die Gattung, die eigent-
liche Menschheit im Menschen? Die Vernunft, der Wille,

*) Objectum intellectus esse illimitatum sive omne verum
ac, ut loquuntur, omne ens ut ens, ex eo constat, quod ad nul-
lum non genus
rerum extenditur, nullumque est, cujus cog-
noscendi capax non sit, licet ob varia obstacula multa sint, quae
re ipsa non norit. Gassendi. (Opp. omn. Phys.)
**) Der geistlose Materialist sagt: "Der Mensch unterscheidet sich
vom Thiere nur durch Bewußtsein, er ist ein Thier, aber mit Be-
wußtsein", er bedenkt also nicht, daß in einem Wesen, das zum Be-
wußtsein erwacht, eine qualitative Veränderung und Differen-
zirung
des ganzen Wesens vor sich geht. Uebrigens soll mit dem Ge-
sagten keineswegs das Wesen der Thiere herabgesetzt werden. Hier ist
der Ort nicht, tiefer einzugehen.
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Weſen, denn die Schranke des Weſens iſt auch die
Schranke des Bewußtſeins. Das Bewußtſein der Raupe,
deren Leben und Weſen auf eine beſtimmte Pflanzenſpecies
eingeſchränkt iſt, erſtreckt ſich auch nicht über dieſes beſchränkte
Gebiet hinaus. Sie unterſcheidet wohl dieſe Pflanze von an-
dern Pflanzen, aber mehr weiß ſie nicht. Solches beſchränk-
tes, aber eben wegen ſeiner Beſchränktheit infallibles, untrüg-
liches Bewußtſein nennen wir darum auch nicht Bewußtſein,
ſondern Inſtinkt. Bewußtſein im ſtrengen oder eigentlichen
Sinne und Bewußtſein des Unendlichen iſt identiſch.
Beſchränktes
Bewußtſein iſt kein Bewußtſein; das Bewußt-
ſein iſt weſentlich unendlicher Natur*). Das Bewußtſein des
Unendlichen iſt nichts andres als das Bewußtſein von der
Unendlichkeit des Bewußtſeins. Oder: im Bewußtſein
des Unendlichen iſt dem Bewußten nur die Unendlichkeit
des eignen Weſens Gegenſtand
.**)

Aber was iſt denn das Weſen des Menſchen, deſſen er
ſich bewußt iſt, oder was conſtituirt die Gattung, die eigent-
liche Menſchheit im Menſchen? Die Vernunft, der Wille,

*) Objectum intellectus esse illimitatum sive omne verum
ac, ut loquuntur, omne ens ut ens, ex eo constat, quod ad nul-
lum non genus
rerum extenditur, nullumque est, cujus cog-
noscendi capax non sit, licet ob varia obstacula multa sint, quae
re ipsa non norit. Gassendi. (Opp. omn. Phys.)
**) Der geiſtloſe Materialiſt ſagt: „Der Menſch unterſcheidet ſich
vom Thiere nur durch Bewußtſein, er iſt ein Thier, aber mit Be-
wußtſein“, er bedenkt alſo nicht, daß in einem Weſen, das zum Be-
wußtſein erwacht, eine qualitative Veränderung und Differen-
zirung
des ganzen Weſens vor ſich geht. Uebrigens ſoll mit dem Ge-
ſagten keineswegs das Weſen der Thiere herabgeſetzt werden. Hier iſt
der Ort nicht, tiefer einzugehen.
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[3/0021] Weſen, denn die Schranke des Weſens iſt auch die Schranke des Bewußtſeins. Das Bewußtſein der Raupe, deren Leben und Weſen auf eine beſtimmte Pflanzenſpecies eingeſchränkt iſt, erſtreckt ſich auch nicht über dieſes beſchränkte Gebiet hinaus. Sie unterſcheidet wohl dieſe Pflanze von an- dern Pflanzen, aber mehr weiß ſie nicht. Solches beſchränk- tes, aber eben wegen ſeiner Beſchränktheit infallibles, untrüg- liches Bewußtſein nennen wir darum auch nicht Bewußtſein, ſondern Inſtinkt. Bewußtſein im ſtrengen oder eigentlichen Sinne und Bewußtſein des Unendlichen iſt identiſch. Beſchränktes Bewußtſein iſt kein Bewußtſein; das Bewußt- ſein iſt weſentlich unendlicher Natur *). Das Bewußtſein des Unendlichen iſt nichts andres als das Bewußtſein von der Unendlichkeit des Bewußtſeins. Oder: im Bewußtſein des Unendlichen iſt dem Bewußten nur die Unendlichkeit des eignen Weſens Gegenſtand. **) Aber was iſt denn das Weſen des Menſchen, deſſen er ſich bewußt iſt, oder was conſtituirt die Gattung, die eigent- liche Menſchheit im Menſchen? Die Vernunft, der Wille, *) Objectum intellectus esse illimitatum sive omne verum ac, ut loquuntur, omne ens ut ens, ex eo constat, quod ad nul- lum non genus rerum extenditur, nullumque est, cujus cog- noscendi capax non sit, licet ob varia obstacula multa sint, quae re ipsa non norit. Gassendi. (Opp. omn. Phys.) **) Der geiſtloſe Materialiſt ſagt: „Der Menſch unterſcheidet ſich vom Thiere nur durch Bewußtſein, er iſt ein Thier, aber mit Be- wußtſein“, er bedenkt alſo nicht, daß in einem Weſen, das zum Be- wußtſein erwacht, eine qualitative Veränderung und Differen- zirung des ganzen Weſens vor ſich geht. Uebrigens ſoll mit dem Ge- ſagten keineswegs das Weſen der Thiere herabgeſetzt werden. Hier iſt der Ort nicht, tiefer einzugehen. 1*

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Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/21>, abgerufen am 29.03.2024.