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Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1858.

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1. Die Reformation an Haupt und Gliedern.
im funfzehnten Jahrhundert gleichmäßig die enge Kleidung hat-
ten, und da man wohl annehmen kann, daß sich bei dem allge-
meinen Drange, die erstarrten Formen des Mittelalters von sich
abzustreifen, ihnen allen gleichzeitig das Gefühl von der lästigen
Enge aufdrängte, so ist es im Grunde ein müssiges Ding, dar-
nach zu forschen, welcher Nation für die Aufschlitzung die Ehre
der Erfindung gebührt, oder gar nach dem Namen des erfinderi-
schen Kopfes zu fragen, der zuerst auf diesen glücklichen Gedan-
ken gekommen. Diese Frage steht ganz gleich derjenigen nach
dem Ursprung und dem ersten Urheber der Reformation. Zwar
stellen die deutschen Sittenrichter unsre Nation wiederholt als
die nachahmende dar, aber theils weichen sie in der Angabe des
Erfinders ab, indem die einen die Italiener nennen, die andern
die Franzosen, die dritten die Spanier, theils ist ihr Urtheil be-
fangen und parteiisch, da sie die Gegner dieser Mode sind und
sich bestreben, sie verächtlich zu machen. Die Aufschlitzung mit
allen parasitischen Auswüchsen ist eine That der großen reforma-
torischen Bewegung, und wie diese nur in Deutschland zu selb-
ständiger Ausbildung und Durchbildung gekommen, in den an-
dern Ländern aber im Keime erstickt oder abgelenkt oder in feste
Schranken eingeschlossen worden, so hat auch nur in Deutsch-
land diese Mode sich in freier, origineller Weise entwickeln kön-
nen, daß es ihr endlich möglich ward, sich zu überstürzen und
ins Maßlose auszuarten. Obwohl wir sie vielleicht am frühsten
in Italien finden, wo es schon am Ende des funfzehnten Jahr-
hunderts junge Stutzer giebt, die Wamms und Beinkleid von
oben bis unten überall zerschlitzt haben, so gewann sie hier doch
nie ein eigentliches, organisches Leben und verschwand bald wie-
der mit Hinterlassung unbedeutender Spuren. In Frankreich
und in Spanien nahm sie, wie wir das noch sehen werden, bald
eine völlig andere Richtung, welchem Beispiel auch England
folgte, seiner halb durchgeführten Reformation gemäß. Deutsch-
land ist ihre wahre Heimath, und die Grenzen desselben und des
germanischen Nordens, soweit er sich der Reformation angeschlos-
sen hatte, sind auch die ihren. Die Pluderhose, in ihrer colossal-

Falke, Trachten- und Modenwelt. II. 3

1. Die Reformation an Haupt und Gliedern.
im funfzehnten Jahrhundert gleichmäßig die enge Kleidung hat-
ten, und da man wohl annehmen kann, daß ſich bei dem allge-
meinen Drange, die erſtarrten Formen des Mittelalters von ſich
abzuſtreifen, ihnen allen gleichzeitig das Gefühl von der läſtigen
Enge aufdrängte, ſo iſt es im Grunde ein müſſiges Ding, dar-
nach zu forſchen, welcher Nation für die Aufſchlitzung die Ehre
der Erfindung gebührt, oder gar nach dem Namen des erfinderi-
ſchen Kopfes zu fragen, der zuerſt auf dieſen glücklichen Gedan-
ken gekommen. Dieſe Frage ſteht ganz gleich derjenigen nach
dem Urſprung und dem erſten Urheber der Reformation. Zwar
ſtellen die deutſchen Sittenrichter unſre Nation wiederholt als
die nachahmende dar, aber theils weichen ſie in der Angabe des
Erfinders ab, indem die einen die Italiener nennen, die andern
die Franzoſen, die dritten die Spanier, theils iſt ihr Urtheil be-
fangen und parteiiſch, da ſie die Gegner dieſer Mode ſind und
ſich beſtreben, ſie verächtlich zu machen. Die Aufſchlitzung mit
allen paraſitiſchen Auswüchſen iſt eine That der großen reforma-
toriſchen Bewegung, und wie dieſe nur in Deutſchland zu ſelb-
ſtändiger Ausbildung und Durchbildung gekommen, in den an-
dern Ländern aber im Keime erſtickt oder abgelenkt oder in feſte
Schranken eingeſchloſſen worden, ſo hat auch nur in Deutſch-
land dieſe Mode ſich in freier, origineller Weiſe entwickeln kön-
nen, daß es ihr endlich möglich ward, ſich zu überſtürzen und
ins Maßloſe auszuarten. Obwohl wir ſie vielleicht am frühſten
in Italien finden, wo es ſchon am Ende des funfzehnten Jahr-
hunderts junge Stutzer giebt, die Wamms und Beinkleid von
oben bis unten überall zerſchlitzt haben, ſo gewann ſie hier doch
nie ein eigentliches, organiſches Leben und verſchwand bald wie-
der mit Hinterlaſſung unbedeutender Spuren. In Frankreich
und in Spanien nahm ſie, wie wir das noch ſehen werden, bald
eine völlig andere Richtung, welchem Beiſpiel auch England
folgte, ſeiner halb durchgeführten Reformation gemäß. Deutſch-
land iſt ihre wahre Heimath, und die Grenzen deſſelben und des
germaniſchen Nordens, ſoweit er ſich der Reformation angeſchloſ-
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Falke, Trachten- und Modenwelt. II. 3
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[33/0045] 1. Die Reformation an Haupt und Gliedern. im funfzehnten Jahrhundert gleichmäßig die enge Kleidung hat- ten, und da man wohl annehmen kann, daß ſich bei dem allge- meinen Drange, die erſtarrten Formen des Mittelalters von ſich abzuſtreifen, ihnen allen gleichzeitig das Gefühl von der läſtigen Enge aufdrängte, ſo iſt es im Grunde ein müſſiges Ding, dar- nach zu forſchen, welcher Nation für die Aufſchlitzung die Ehre der Erfindung gebührt, oder gar nach dem Namen des erfinderi- ſchen Kopfes zu fragen, der zuerſt auf dieſen glücklichen Gedan- ken gekommen. Dieſe Frage ſteht ganz gleich derjenigen nach dem Urſprung und dem erſten Urheber der Reformation. Zwar ſtellen die deutſchen Sittenrichter unſre Nation wiederholt als die nachahmende dar, aber theils weichen ſie in der Angabe des Erfinders ab, indem die einen die Italiener nennen, die andern die Franzoſen, die dritten die Spanier, theils iſt ihr Urtheil be- fangen und parteiiſch, da ſie die Gegner dieſer Mode ſind und ſich beſtreben, ſie verächtlich zu machen. Die Aufſchlitzung mit allen paraſitiſchen Auswüchſen iſt eine That der großen reforma- toriſchen Bewegung, und wie dieſe nur in Deutſchland zu ſelb- ſtändiger Ausbildung und Durchbildung gekommen, in den an- dern Ländern aber im Keime erſtickt oder abgelenkt oder in feſte Schranken eingeſchloſſen worden, ſo hat auch nur in Deutſch- land dieſe Mode ſich in freier, origineller Weiſe entwickeln kön- nen, daß es ihr endlich möglich ward, ſich zu überſtürzen und ins Maßloſe auszuarten. Obwohl wir ſie vielleicht am frühſten in Italien finden, wo es ſchon am Ende des funfzehnten Jahr- hunderts junge Stutzer giebt, die Wamms und Beinkleid von oben bis unten überall zerſchlitzt haben, ſo gewann ſie hier doch nie ein eigentliches, organiſches Leben und verſchwand bald wie- der mit Hinterlaſſung unbedeutender Spuren. In Frankreich und in Spanien nahm ſie, wie wir das noch ſehen werden, bald eine völlig andere Richtung, welchem Beiſpiel auch England folgte, ſeiner halb durchgeführten Reformation gemäß. Deutſch- land iſt ihre wahre Heimath, und die Grenzen deſſelben und des germaniſchen Nordens, ſoweit er ſich der Reformation angeſchloſ- ſen hatte, ſind auch die ihren. Die Pluderhoſe, in ihrer coloſſal- Falke, Trachten- und Modenwelt. II. 3

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Zitationshilfe: Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/falke_trachten02_1858/45>, abgerufen am 24.04.2024.