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[Eckstein, Ernst:] Dudler und Dulder. Studien über die Anmaßungen der Tonkunst. Leipzig, 1893.

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es von dem andern Geschlechte begehrt. Hiermit ist selbstverständlich nicht nur an die kalte Regelmäßigkeit der Linien, sondern auch an jene psychischen Vorzüge zu denken, die den Linien erst das reizvolle, lebendige Leben einhauchen.

Der Schönheits-Typus der Plastik und Malerei ist nun selbstverständlicher Weise mit dem Schönheits-Typus, wie er der Liebe vorschwebt, völlig identisch. Vorübergehend kann sich hier eine naturwidrige Manier, eine Kunst-Mode geltend machen, die im Gegensatz zu dem echten, unverkünstelten Schönheitsgefühl gewisse Abweichungen von der gesunden Norm bevorzugt; und diese Kunst-Mode kann den Salon-Geschmack influiren und bei den "Leuten von Welt" Sympathieen zeitigen für Erscheinungen, die eigentlich unschön sind; zum Exempel für die sogenannte Wespentaille, diesen Hohn auf alle Plastiker des glücklichen Hellas. Aber derartige Phänomene gehören in die Kategorie der geistigen Epidemieen, von denen lediglich die schwachen, verbildeten Individuen ergriffen werden, während die kernigen, urwüchsigen, selbstständig organisirten nach wie vor dem Genius der echten Natur treu bleiben, und allem Chic und allem Bon-ton-Gefasel zum Trotz die Taille der capuanischen Venus schöner finden und minniglicher, als den korsett-gedrillten, höchst ätherischen, aber höchst lufthungrigen Spindel-Thorax der "entzückendsten" unserer eindärmigen Lieutenants-Tänzerinnen. -

Von solchen Kunst-Moden abgesehen, deckt sich das, was der Liebende schön findet, und das, der bildende Künstler schön findet, vollständig.

Ist nun der Schönheites-Typus, wie er der Liebe vorschwebt, veränderlich - weil er ja mit der fortschreitenden Entwicklung des Gattung-Typus, sich modificirt -- so gilt

es von dem andern Geschlechte begehrt. Hiermit ist selbstverständlich nicht nur an die kalte Regelmäßigkeit der Linien, sondern auch an jene psychischen Vorzüge zu denken, die den Linien erst das reizvolle, lebendige Leben einhauchen.

Der Schönheits-Typus der Plastik und Malerei ist nun selbstverständlicher Weise mit dem Schönheits-Typus, wie er der Liebe vorschwebt, völlig identisch. Vorübergehend kann sich hier eine naturwidrige Manier, eine Kunst-Mode geltend machen, die im Gegensatz zu dem echten, unverkünstelten Schönheitsgefühl gewisse Abweichungen von der gesunden Norm bevorzugt; und diese Kunst-Mode kann den Salon-Geschmack influiren und bei den „Leuten von Welt“ Sympathieen zeitigen für Erscheinungen, die eigentlich unschön sind; zum Exempel für die sogenannte Wespentaille, diesen Hohn auf alle Plastiker des glücklichen Hellas. Aber derartige Phänomene gehören in die Kategorie der geistigen Epidemieen, von denen lediglich die schwachen, verbildeten Individuen ergriffen werden, während die kernigen, urwüchsigen, selbstständig organisirten nach wie vor dem Genius der echten Natur treu bleiben, und allem Chic und allem Bon-ton-Gefasel zum Trotz die Taille der capuanischen Venus schöner finden und minniglicher, als den korsett-gedrillten, höchst ätherischen, aber höchst lufthungrigen Spindel-Thorax der „entzückendsten“ unserer eindärmigen Lieutenants-Tänzerinnen. –

Von solchen Kunst-Moden abgesehen, deckt sich das, was der Liebende schön findet, und das, der bildende Künstler schön findet, vollständig.

Ist nun der Schönheites-Typus, wie er der Liebe vorschwebt, veränderlich – weil er ja mit der fortschreitenden Entwicklung des Gattung-Typus, sich modificirt — so gilt

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        <p>Der Schönheits-Typus der Plastik und Malerei ist nun selbstverständlicher Weise mit dem Schönheits-Typus, wie er der Liebe vorschwebt, völlig identisch. Vorübergehend kann sich hier eine naturwidrige Manier, eine Kunst-Mode geltend machen, die im Gegensatz zu dem echten, unverkünstelten Schönheitsgefühl gewisse Abweichungen von der gesunden Norm bevorzugt; und diese Kunst-Mode kann den Salon-Geschmack influiren und bei den &#x201E;Leuten von Welt&#x201C; Sympathieen zeitigen für Erscheinungen, die eigentlich unschön sind; zum Exempel für die sogenannte Wespentaille, diesen Hohn auf alle Plastiker des glücklichen Hellas. Aber derartige Phänomene gehören in die Kategorie der geistigen Epidemieen, von denen lediglich die schwachen, verbildeten Individuen ergriffen werden, während die kernigen, urwüchsigen, selbstständig organisirten nach wie vor dem Genius der echten Natur treu bleiben, und allem Chic und allem Bon-ton-Gefasel zum Trotz die Taille der capuanischen Venus schöner finden und minniglicher, als den korsett-gedrillten, höchst ätherischen, aber höchst lufthungrigen Spindel-Thorax der &#x201E;entzückendsten&#x201C; unserer eindärmigen Lieutenants-Tänzerinnen. &#x2013;</p>
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[39/0041] es von dem andern Geschlechte begehrt. Hiermit ist selbstverständlich nicht nur an die kalte Regelmäßigkeit der Linien, sondern auch an jene psychischen Vorzüge zu denken, die den Linien erst das reizvolle, lebendige Leben einhauchen. Der Schönheits-Typus der Plastik und Malerei ist nun selbstverständlicher Weise mit dem Schönheits-Typus, wie er der Liebe vorschwebt, völlig identisch. Vorübergehend kann sich hier eine naturwidrige Manier, eine Kunst-Mode geltend machen, die im Gegensatz zu dem echten, unverkünstelten Schönheitsgefühl gewisse Abweichungen von der gesunden Norm bevorzugt; und diese Kunst-Mode kann den Salon-Geschmack influiren und bei den „Leuten von Welt“ Sympathieen zeitigen für Erscheinungen, die eigentlich unschön sind; zum Exempel für die sogenannte Wespentaille, diesen Hohn auf alle Plastiker des glücklichen Hellas. Aber derartige Phänomene gehören in die Kategorie der geistigen Epidemieen, von denen lediglich die schwachen, verbildeten Individuen ergriffen werden, während die kernigen, urwüchsigen, selbstständig organisirten nach wie vor dem Genius der echten Natur treu bleiben, und allem Chic und allem Bon-ton-Gefasel zum Trotz die Taille der capuanischen Venus schöner finden und minniglicher, als den korsett-gedrillten, höchst ätherischen, aber höchst lufthungrigen Spindel-Thorax der „entzückendsten“ unserer eindärmigen Lieutenants-Tänzerinnen. – Von solchen Kunst-Moden abgesehen, deckt sich das, was der Liebende schön findet, und das, der bildende Künstler schön findet, vollständig. Ist nun der Schönheites-Typus, wie er der Liebe vorschwebt, veränderlich – weil er ja mit der fortschreitenden Entwicklung des Gattung-Typus, sich modificirt — so gilt

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Zitationshilfe: [Eckstein, Ernst:] Dudler und Dulder. Studien über die Anmaßungen der Tonkunst. Leipzig, 1893, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckstein_dudler_1893/41>, abgerufen am 28.03.2024.