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[Eckstein, Ernst:] Dudler und Dulder. Studien über die Anmaßungen der Tonkunst. Leipzig, 1893.

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Natur, aber es hat das Gute, vielleicht unterhaltsamer zu sein, als eine starr-theoretische Auslassung...

Es war im verwichenen Herbst. Ich hatte kurz vor Einbruch der Dämmerung die vergilbten Blätter einer alten literarisch-kritischen Zeitschrift durchstöbert. Der eigentümliche Modergeruch, der dem ehrwürdigen Folianten in gewaltigen Duftwellen entströmte, war mir zu Kopf gestiegen. Nicht minder narkotisch hatte eine Besprechung der "Römischen Elegien" Wolfgang Goethe's gewirkt. Die köstlichen Dichtungen des Altmeisters waren damals die haute nouveaute des Tages, und Alles, was eine kritische Feder führte, versuchte sich an den melodischen Rhythmen dieser modernen Antike.

Mein moderduftiger Folianten-Kritiker erging sich einleitungsweise in mysteriösen Erörterungen über die ewigen Sittengesetze. Denn für gewisse Moralphilosophen bedeuten die ewigen Sittengesetze genau das Nämliche, was für den Kunstphilosophen die ewigen Schönheitsgesetze: ein volltöniges, unantastbares Axiom! Wie der Musik-Aesthetiker spricht: Der Meister, den ich vergöttre, ist ewig; so lange es eine Menschheit gibt, wird er gekannt, gepflegt, geliebt und bewundert werden - so spricht der conservative Ethiker: Was gut und sittlich ist, das wird gut und sittlich bleiben, solang es in unserer pochenden Brust einen kategorischen Imperativ, ein unverfälschtes Gewissen gibt...

Also der Kritiker meiner vergilbten Zeitschrift fußte auf jenem Axiom und wandte es praktisch auf den conkreten Fall an. Daß ich's nur gleich gestehe: er ließ kein gutes Haar an Wolfgangs "Römischen Sünden". Seine catonische Moral fand die Offenheit, mit welcher der Dichter sein Verhältniß zu Faustina behandelt, "cynisch", da es klar

Natur, aber es hat das Gute, vielleicht unterhaltsamer zu sein, als eine starr-theoretische Auslassung…

Es war im verwichenen Herbst. Ich hatte kurz vor Einbruch der Dämmerung die vergilbten Blätter einer alten literarisch-kritischen Zeitschrift durchstöbert. Der eigentümliche Modergeruch, der dem ehrwürdigen Folianten in gewaltigen Duftwellen entströmte, war mir zu Kopf gestiegen. Nicht minder narkotisch hatte eine Besprechung der „Römischen Elegien“ Wolfgang Goethe’s gewirkt. Die köstlichen Dichtungen des Altmeisters waren damals die haute nouveauté des Tages, und Alles, was eine kritische Feder führte, versuchte sich an den melodischen Rhythmen dieser modernen Antike.

Mein moderduftiger Folianten-Kritiker erging sich einleitungsweise in mysteriösen Erörterungen über die ewigen Sittengesetze. Denn für gewisse Moralphilosophen bedeuten die ewigen Sittengesetze genau das Nämliche, was für den Kunstphilosophen die ewigen Schönheitsgesetze: ein volltöniges, unantastbares Axiom! Wie der Musik-Aesthetiker spricht: Der Meister, den ich vergöttre, ist ewig; so lange es eine Menschheit gibt, wird er gekannt, gepflegt, geliebt und bewundert werden – so spricht der conservative Ethiker: Was gut und sittlich ist, das wird gut und sittlich bleiben, solang es in unserer pochenden Brust einen kategorischen Imperativ, ein unverfälschtes Gewissen gibt…

Also der Kritiker meiner vergilbten Zeitschrift fußte auf jenem Axiom und wandte es praktisch auf den conkreten Fall an. Daß ich’s nur gleich gestehe: er ließ kein gutes Haar an Wolfgangs „Römischen Sünden“. Seine catonische Moral fand die Offenheit, mit welcher der Dichter sein Verhältniß zu Faustina behandelt, „cynisch“, da es klar

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[21/0023] Natur, aber es hat das Gute, vielleicht unterhaltsamer zu sein, als eine starr-theoretische Auslassung… Es war im verwichenen Herbst. Ich hatte kurz vor Einbruch der Dämmerung die vergilbten Blätter einer alten literarisch-kritischen Zeitschrift durchstöbert. Der eigentümliche Modergeruch, der dem ehrwürdigen Folianten in gewaltigen Duftwellen entströmte, war mir zu Kopf gestiegen. Nicht minder narkotisch hatte eine Besprechung der „Römischen Elegien“ Wolfgang Goethe’s gewirkt. Die köstlichen Dichtungen des Altmeisters waren damals die haute nouveauté des Tages, und Alles, was eine kritische Feder führte, versuchte sich an den melodischen Rhythmen dieser modernen Antike. Mein moderduftiger Folianten-Kritiker erging sich einleitungsweise in mysteriösen Erörterungen über die ewigen Sittengesetze. Denn für gewisse Moralphilosophen bedeuten die ewigen Sittengesetze genau das Nämliche, was für den Kunstphilosophen die ewigen Schönheitsgesetze: ein volltöniges, unantastbares Axiom! Wie der Musik-Aesthetiker spricht: Der Meister, den ich vergöttre, ist ewig; so lange es eine Menschheit gibt, wird er gekannt, gepflegt, geliebt und bewundert werden – so spricht der conservative Ethiker: Was gut und sittlich ist, das wird gut und sittlich bleiben, solang es in unserer pochenden Brust einen kategorischen Imperativ, ein unverfälschtes Gewissen gibt… Also der Kritiker meiner vergilbten Zeitschrift fußte auf jenem Axiom und wandte es praktisch auf den conkreten Fall an. Daß ich’s nur gleich gestehe: er ließ kein gutes Haar an Wolfgangs „Römischen Sünden“. Seine catonische Moral fand die Offenheit, mit welcher der Dichter sein Verhältniß zu Faustina behandelt, „cynisch“, da es klar

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Zitationshilfe: [Eckstein, Ernst:] Dudler und Dulder. Studien über die Anmaßungen der Tonkunst. Leipzig, 1893, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckstein_dudler_1893/23>, abgerufen am 19.04.2024.