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Ebers, Georg: Eine Aegyptische Königstochter. Bd. 2. Stuttgart, 1864.

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"Darüber wage ich nicht zu urtheilen. Unsre Kunst-
werke sind so verschieden von denen der Hellenen! Wenn
ich in unsre ungeheueren Tempel ging, um zu beten, so
war es mir immer, als müsse ich mich vor der Größe der
Götter in den Staub werfen und sie bitten, mich kleinen
Wurm nicht zu zerschmettern; im Hera-Heiligthum zu Sa-
mos aber mußte ich meine Hände erheben und den Göt-
tern fröhlich danken, daß sie die Erde so schön bereitet
haben. -- Jn Aegypten dacht ich immer, wie man mich
gelehrt hatte: ,Das Leben ist Schlaf, in der Todesstunde
werden wir erst zum rechten Dasein im Reiche des Osiris
erwachen,' in Griechenland meinte ich: ,Zum Leben bin
ich geboren und zum Genusse dieser Welt, die mich so
heiter und schön umblüht und umglänzt.'"

"Ach erzähle uns mehr von Griechenland," rief Atossa;
"aber erst soll Nebenchari die Augen der Mutter von
neuem verbinden."

Der Augenarzt, ein großer ernster Mann im weißen
ägyptischen Priestergewande, ging an sein Geschäft und
zog sich nach Beendigung desselben und, nachdem ihn Ni-
tetis herzlich begrüßt hatte, schweigend in den Hintergrund
zurück, als ein Eunuch in das Zimmer trat, welcher an-
fragte, ob Krösus der Mutter des Königs seine Ehrfurcht
bezeugen dürfe.

Bald darauf erschien der Greis und ward, als alter, be-
währter Freund des persischen Königshauses, mit aufrich-
tiger Herzlichkeit empfangen. Die ungestüme Atossa fiel
dem lange Vermißten um den Hals, die Königin streckte
ihm ihre Hand entgegen und Nitetis begrüßte ihn, wie
einen geliebten Vater.

"Jch danke den Göttern, daß sie mir euch wiederzu-
sehen gestatten," rief der rüstige Greis. "Jn meinem

„Darüber wage ich nicht zu urtheilen. Unſre Kunſt-
werke ſind ſo verſchieden von denen der Hellenen! Wenn
ich in unſre ungeheueren Tempel ging, um zu beten, ſo
war es mir immer, als müſſe ich mich vor der Größe der
Götter in den Staub werfen und ſie bitten, mich kleinen
Wurm nicht zu zerſchmettern; im Hera-Heiligthum zu Sa-
mos aber mußte ich meine Hände erheben und den Göt-
tern fröhlich danken, daß ſie die Erde ſo ſchön bereitet
haben. — Jn Aegypten dacht ich immer, wie man mich
gelehrt hatte: ‚Das Leben iſt Schlaf, in der Todesſtunde
werden wir erſt zum rechten Daſein im Reiche des Oſiris
erwachen,‘ in Griechenland meinte ich: ‚Zum Leben bin
ich geboren und zum Genuſſe dieſer Welt, die mich ſo
heiter und ſchön umblüht und umglänzt.‘“

„Ach erzähle uns mehr von Griechenland,“ rief Atoſſa;
„aber erſt ſoll Nebenchari die Augen der Mutter von
neuem verbinden.“

Der Augenarzt, ein großer ernſter Mann im weißen
ägyptiſchen Prieſtergewande, ging an ſein Geſchäft und
zog ſich nach Beendigung deſſelben und, nachdem ihn Ni-
tetis herzlich begrüßt hatte, ſchweigend in den Hintergrund
zurück, als ein Eunuch in das Zimmer trat, welcher an-
fragte, ob Kröſus der Mutter des Königs ſeine Ehrfurcht
bezeugen dürfe.

Bald darauf erſchien der Greis und ward, als alter, be-
währter Freund des perſiſchen Königshauſes, mit aufrich-
tiger Herzlichkeit empfangen. Die ungeſtüme Atoſſa fiel
dem lange Vermißten um den Hals, die Königin ſtreckte
ihm ihre Hand entgegen und Nitetis begrüßte ihn, wie
einen geliebten Vater.

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[43/0045] „Darüber wage ich nicht zu urtheilen. Unſre Kunſt- werke ſind ſo verſchieden von denen der Hellenen! Wenn ich in unſre ungeheueren Tempel ging, um zu beten, ſo war es mir immer, als müſſe ich mich vor der Größe der Götter in den Staub werfen und ſie bitten, mich kleinen Wurm nicht zu zerſchmettern; im Hera-Heiligthum zu Sa- mos aber mußte ich meine Hände erheben und den Göt- tern fröhlich danken, daß ſie die Erde ſo ſchön bereitet haben. — Jn Aegypten dacht ich immer, wie man mich gelehrt hatte: ‚Das Leben iſt Schlaf, in der Todesſtunde werden wir erſt zum rechten Daſein im Reiche des Oſiris erwachen,‘ in Griechenland meinte ich: ‚Zum Leben bin ich geboren und zum Genuſſe dieſer Welt, die mich ſo heiter und ſchön umblüht und umglänzt.‘“ „Ach erzähle uns mehr von Griechenland,“ rief Atoſſa; „aber erſt ſoll Nebenchari die Augen der Mutter von neuem verbinden.“ Der Augenarzt, ein großer ernſter Mann im weißen ägyptiſchen Prieſtergewande, ging an ſein Geſchäft und zog ſich nach Beendigung deſſelben und, nachdem ihn Ni- tetis herzlich begrüßt hatte, ſchweigend in den Hintergrund zurück, als ein Eunuch in das Zimmer trat, welcher an- fragte, ob Kröſus der Mutter des Königs ſeine Ehrfurcht bezeugen dürfe. Bald darauf erſchien der Greis und ward, als alter, be- währter Freund des perſiſchen Königshauſes, mit aufrich- tiger Herzlichkeit empfangen. Die ungeſtüme Atoſſa fiel dem lange Vermißten um den Hals, die Königin ſtreckte ihm ihre Hand entgegen und Nitetis begrüßte ihn, wie einen geliebten Vater. „Jch danke den Göttern, daß ſie mir euch wiederzu- ſehen geſtatten,“ rief der rüſtige Greis. „Jn meinem

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Zitationshilfe: Ebers, Georg: Eine Aegyptische Königstochter. Bd. 2. Stuttgart, 1864, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebers_koenigstochter02_1864/45>, abgerufen am 28.03.2024.