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Ebers, Georg: Eine Aegyptische Königstochter. Bd. 2. Stuttgart, 1864.

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setzte sich, statt ihr Lager aufzusuchen, an das offne Fen-
ster, welches sich den hängenden Gärten entgegen öffnete.
Thränenden Blickes schaute sie zu dem Hause hinüber, in
welchem jetzt ihre Freundin, ihre Schwester, einsam, ver-
lassen, verbannt, einem schmachvollen Tode entgegen sah.
Plötzlich schien ein kräftiger Wille ihr von Thränen er-
mattetes Auge von Neuem zu beleben, und statt in die
grenzenlose Weite, heftete sich ihr Blick unverwandt auf
einen schwarzen Punkt, welcher vom Hause der Aegypterin
aus, immer größer und erkennbarer werdend, in grader
Linie auf sie zuflog und sich endlich auf eine Cypresse
dicht vor ihrem Fenster niederließ.

Da schwand mit einem Male der Gram von ihrem
lieblichen Antlitze; hochaufathmend klatschte sie in die Hände
und rief aus: "O, sieh da, der Vogel Homai 120)! Der
Glücksvogel! Nun wird Alles gut werden!"

Derselbe Paradiesvogel, dessen Anblick dem Herzen
der Nitetis so wunderbaren Trost gebracht hatte, schenkte
auch Atossa neue Zuversicht.

Prüfend, ob sie von Niemand gesehn werde, schaute
sie in den Garten. Als sie sich überzeugt hatte, daß
Keiner, außer einem alten Gärtner, in demselben ver-
weile, schwang sie sich, behend wie ein Reh, aus dem
Fenster hinaus, brach einige Rosenblüten und Cypressen-
zweige und näherte sich mit denselben dem Greise, welcher
ihrem Treiben kopfschüttelnd zusah.

Schmeichlerisch liebkoste sie die Wangen des Alten,
legte ihre Blumen in seine gebräunte Hand und fragte:
"Hast Du mich lieb, Sabaces?"

"O Herrin!" lautete die einzige Antwort des Grei-
ses, der den Saum des Gewandes der Königstochter in-
brünstig an seine Lippen drückte.

ſetzte ſich, ſtatt ihr Lager aufzuſuchen, an das offne Fen-
ſter, welches ſich den hängenden Gärten entgegen öffnete.
Thränenden Blickes ſchaute ſie zu dem Hauſe hinüber, in
welchem jetzt ihre Freundin, ihre Schweſter, einſam, ver-
laſſen, verbannt, einem ſchmachvollen Tode entgegen ſah.
Plötzlich ſchien ein kräftiger Wille ihr von Thränen er-
mattetes Auge von Neuem zu beleben, und ſtatt in die
grenzenloſe Weite, heftete ſich ihr Blick unverwandt auf
einen ſchwarzen Punkt, welcher vom Hauſe der Aegypterin
aus, immer größer und erkennbarer werdend, in grader
Linie auf ſie zuflog und ſich endlich auf eine Cypreſſe
dicht vor ihrem Fenſter niederließ.

Da ſchwand mit einem Male der Gram von ihrem
lieblichen Antlitze; hochaufathmend klatſchte ſie in die Hände
und rief aus: „O, ſieh da, der Vogel Homaï 120)! Der
Glücksvogel! Nun wird Alles gut werden!“

Derſelbe Paradiesvogel, deſſen Anblick dem Herzen
der Nitetis ſo wunderbaren Troſt gebracht hatte, ſchenkte
auch Atoſſa neue Zuverſicht.

Prüfend, ob ſie von Niemand geſehn werde, ſchaute
ſie in den Garten. Als ſie ſich überzeugt hatte, daß
Keiner, außer einem alten Gärtner, in demſelben ver-
weile, ſchwang ſie ſich, behend wie ein Reh, aus dem
Fenſter hinaus, brach einige Roſenblüten und Cypreſſen-
zweige und näherte ſich mit denſelben dem Greiſe, welcher
ihrem Treiben kopfſchüttelnd zuſah.

Schmeichleriſch liebkoſte ſie die Wangen des Alten,
legte ihre Blumen in ſeine gebräunte Hand und fragte:
„Haſt Du mich lieb, Sabaces?“

„O Herrin!“ lautete die einzige Antwort des Grei-
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[230/0232] ſetzte ſich, ſtatt ihr Lager aufzuſuchen, an das offne Fen- ſter, welches ſich den hängenden Gärten entgegen öffnete. Thränenden Blickes ſchaute ſie zu dem Hauſe hinüber, in welchem jetzt ihre Freundin, ihre Schweſter, einſam, ver- laſſen, verbannt, einem ſchmachvollen Tode entgegen ſah. Plötzlich ſchien ein kräftiger Wille ihr von Thränen er- mattetes Auge von Neuem zu beleben, und ſtatt in die grenzenloſe Weite, heftete ſich ihr Blick unverwandt auf einen ſchwarzen Punkt, welcher vom Hauſe der Aegypterin aus, immer größer und erkennbarer werdend, in grader Linie auf ſie zuflog und ſich endlich auf eine Cypreſſe dicht vor ihrem Fenſter niederließ. Da ſchwand mit einem Male der Gram von ihrem lieblichen Antlitze; hochaufathmend klatſchte ſie in die Hände und rief aus: „O, ſieh da, der Vogel Homaï 120)! Der Glücksvogel! Nun wird Alles gut werden!“ Derſelbe Paradiesvogel, deſſen Anblick dem Herzen der Nitetis ſo wunderbaren Troſt gebracht hatte, ſchenkte auch Atoſſa neue Zuverſicht. Prüfend, ob ſie von Niemand geſehn werde, ſchaute ſie in den Garten. Als ſie ſich überzeugt hatte, daß Keiner, außer einem alten Gärtner, in demſelben ver- weile, ſchwang ſie ſich, behend wie ein Reh, aus dem Fenſter hinaus, brach einige Roſenblüten und Cypreſſen- zweige und näherte ſich mit denſelben dem Greiſe, welcher ihrem Treiben kopfſchüttelnd zuſah. Schmeichleriſch liebkoſte ſie die Wangen des Alten, legte ihre Blumen in ſeine gebräunte Hand und fragte: „Haſt Du mich lieb, Sabaces?“ „O Herrin!“ lautete die einzige Antwort des Grei- ſes, der den Saum des Gewandes der Königstochter in- brünſtig an ſeine Lippen drückte.

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Zitationshilfe: Ebers, Georg: Eine Aegyptische Königstochter. Bd. 2. Stuttgart, 1864, S. 230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebers_koenigstochter02_1864/232>, abgerufen am 25.04.2024.